Militärische Traditionspflege in Italien - Rückkehr des Faschismus?

Seit 1997/98 geben die italienischen Landstreitkräfte (wieder) alljährlich einen Kalender („CalendEsercito“) heraus, mit dem an die militärische Tradition Italiens erinnert und Personen aus der Militär- und Kriegsgeschichte als Vorbilder für heutige Sodatinnen und Soldaten präsentiert werden. Häufig stehen die Kalender unter einem Leitthema, das sich aus historischen Jubiläen ergibt. So dominierten beispielsweise 2011 die Erinnerung an die italienische Einigung („1861“), 2015 bis 2018 an den Ersten Weltkrieg (2015: „1915 - La Grande Guerra... un Popolo in Armi“; 2016: „1916“; 2017: „1917 - Innovazioni della Grande Guerra“; 2018: „1848 – 1918“) und 2023 an den Seitenwechsel Italiens im Zweiten Weltkrieg und die folgenden Kämpfe gegen die ehemaligen deutschen Verbündeten, etwa im Dezember 1943 zusammen mit den US-Amerikanern bei Mignano Monte Lungo in Kampanien („1943 – A Testa Alta“). 2022 stand unter dem Motte „La Vostra Difesa – la Nostra Missione“ und legte seinen Fokus auf die Schutz- und Unterstützungsfunktion des Heeres bei Naturkatastrophen und der Covid-19-Pandemie. 

Der von der Unterstaatssekretärin für Verteidigung, Isabella Rauti, verantwortete Kalender für 2024 hat nun zu einer innenpolitischen Diskussion um die Rolle des Erbes des Faschismus in den Streitkräften geführt. Nicht nur ist Rauti Mitglied der postfaschistischen Regierungspartei Fratelli d’Italia, Armeereservistin und Tochter des ehemaligen Vorsitzenden des neofaschistischen MSI (Movimento Sociale Italiano), Pino Rauti - der Kalender widmet sich dieses Jahr dem Thema „Per Italia Sempre... primo e dopo l‘8 settembre 1943“. Am 8. September 1943 schloss die neue italienische Regierung unter Marschall Pietro Badoglio nach der Absetzung Mussolinis durch den faschistischen Großrat und König Vittorio Emmanuele III. im Juli mit den Alliierten einen Waffenstillstand, worauf deutsche Truppen Italien und italienische Gebiete auf dem Balkan und in der Ägäis besetzten, die italienischen Truppen entwaffneten und Tausende von ihnen misshandelten, töteten oder zwangsverschleppten. Am 13. Oktober 1943 erklärte Italien daraufhin unter dem Druck der Alliierten Deutschland den Krieg und beteiligte sich in der Folge an den Kämpfen gegen die deutschen Streitkräfte sowie gegen die Truppen des Marionetten-Regimes der „Republik von Salo“ des von den Deutschen befreiten Mussolini in Norditalien. 

Dem Motto des Kalenders 2024 getreu werden nun Soldaten präsentiert, welche sowohl während des Faschismus als auch danach mit hohen italienischen Tapferkeitsorden ausgezeichnet wurden. Damit soll offenbar einerseits unterstrichen werden, dass es ungeachtet des jeweiligen politischen Systems um den Einsatz der Streitkräfte für das Vaterland – „immer für Italien!“- geht; andererseits wird damit das Dilemma vieler Soldaten vor und nach 1943 sichtbar gemacht. (Der Mitte 1944 wieder entlassene Badoglio war selbst Befehlshaber während der italienischen Aggression gegen Abessinien und Generalstabschef im Angriffskrieg gegen Griechenland 1940 gewesen.) Beispiele sind etwa Hauptmann der Panzertruppe Antonio Cianciullo (Februar), ausgezeichnet für Tapferkeit an der griechischen Front 1941 und im Kampf gegen die Deutschen auf Kefalonia 1943, oder Kavallerie-Hauptmann Francesco Donnini Vannetti (Juni), dekoriert für seinen Einsatz gegen Jugoslawien 1941 und bei der Verteidigung Roms gegen die Deutschen 1943. Insgesamt erinnert diese Perspektive an Narrative des "unpolitischen" Soldaten, die auch aus dem deutschen Kontext bekannt sind.

Die italienische Opposition kritisiert nun, mit dem Kalender ziele die Regierung auf eine Rehabilitierung des Faschismus ab und fordert Konsequenzen, nicht zuletzt deshalb, weil der Kalender auch an Schulen beworben wird. Auch der Verband italienischer Partisanen (ANPI) hat gefordert, den Kalender zurückzuziehen, da er das faschistische Regime auf die gleiche Stufe stelle wie die demokratische Republik (seit 1946). Es gebe eine profaschistische Minderheit, welche die italienische Geschichte umschreiben wolle. Italiens zweitgrößte Tageszeitung, La Repubblica, hat den Vorfall dahingehend kommentiert, dass er vergleichbar damit wäre, wenn die Bundeswehr nach 80 Jahren der Taten der Wehrmacht gedenken würde, weil sie damals so tapfer für Großdeutschland gekämpft habe. – Die Probleme, die auch die Bundeswehr tatsächlich mit ihrer Traditionspflege hatte (und teilweise noch hat) werden dabei nicht thematisiert.  

Es scheint also so zu sein, dass unter der gegenwärtigen rechten Regierung, geführt von Giorgia Meloni von den postfaschistischen FdI, der Faschismus in Italien, wie von vielen befürchtet, wieder salonfähig wird. Dazu passt ein Urteil des Kassationsgerichtshofs in Rom, des höchstens italienischen Berufungsgerichts, vom 18. Januar im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens gegen acht Rechtsextremisten, die in zweiter Instanz wegen des Zeigens des „Römischen Grußes“ bei einer Gedenkfeier 2016 zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden waren. In erster Instanz waren sie freigesprochen worden. 

Der Kassationsgerichtshof hat nun in dritter Instanz beschlossen, dass das Berufungsverfahren neu aufgerollt werden muss, da das Zeigen des Faschistengrußes zwar nach dem Art. 5 des Gesetzes Nr. 645 von 1952 (nach dem damaligen Innenminister „Scelba-Gesetz“ genannt) zwar grundsätzlich strafbar sei, nachdem das Gesetz die Verherrlichung des Faschismus verbietet und die Auflösung von Organisationen vorsieht, die sich auf den Faschismus beziehen. Konkret untersagt es jede öffentliche Propaganda, mit der „Persönlichkeiten, Prinzipien, Handlungen oder Methoden des Faschismus oder dessen antidemokratische Ziele angepriesen werden.“ Allerdings waren die römischen Richter nun der Ansicht, dass Strafbarkeit des faschistischen Grußes im Sinne des Gesetzes nur dann vorliege, wenn damit eine Gefahr der Neugründung einer faschistischen Partei oder Organisation verbunden sei. Dies sei im Falle der besagten Gedenkfeier für zwei 1978 getötete Rechtsaktivisten nicht der Fall gewesen. In Teilen der Öffentlichkeit stieß das Urteil auf massive Kritik; begrüßt wurde es u.a. von der rechtsextremen Partei Casapound, die prompt ankündigte, auf ihren Veranstaltungen weiterhin den Römischen Gruß zu verwenden. 

Tatsächlich verweist das Urteil ebenso wie die Kontroverse um den Militärkalender jedoch auf das zentrale Grundproblem der italienischen Nachkriegsgeschichte: der unzureichenden Aufarbeitung der faschistischen Ära. Zwar erfolgte unmittelbar bei Kriegsende eine teilweise heftige und häufig gewaltsame Abrechnung mit ehemaligen Faschisten; allerdings war diese nicht systematisch, geschweige denn rechtsstaatlich fundiert und entsprach häufig Rachetaten ehemaliger Regimegegner und -opfer, insbesondere von Seiten kommunistischer Partisanen. Auch wurde wie durch das genannte Gesetz 645 die faschistische Wiederbetätigung grundsätzlich verboten und verfolgt, doch gab es – noch ungleich deutlicher als im bundesdeutschen Kontext – keine umfassende Säuberung des Staatsapparates und der politischen Parteienlandschaft von ehemaligen Faschisten. Drei Aspekte waren dabei von ausschlaggebender Bedeutung:

Erstens ermöglichten der Seitenwechsel Italiens im September 1943 und die darauffolgende Besetzung Nord- und Mittelitaliens durch die Deutschen sowie deren Bekämpfung in der „resistenza“ 1943 bis 1945 die primäre Selbststilisierung der italienischen Gesellschaft als Opfer vornehmlich der Deutschen. Die Zeit der faschistischen Unterdrückung und Aggression trat damit in den Hintergrund. So entstand eine Art antifaschistischer Gründungsmythos des neuen Italiens, der sich etwa in der (deutlich zu differenzierenden) Behauptung äußerte, der italienische Staat habe sich nur widerstrebend und in passivem Widerstand der nationalsozialistischen Judenverfolgung und Ausrottungspolitik angeschlossen. Nicht zuletzt auch die italienischen Streitkräfte erlebten so keinen wirklichen Strukturbruch, standen sie doch – mit Ausnahme der Armee der Republik von Salo – ab 1943 faktisch an der Seite der Alliierten. 

Zweitens dominierte recht schnell das pragmatische Bestreben, die ideologischen Gräben in der italienischen Gesellschaft im Sinne des Wiederaufbaus und der Konsolidierung der neuen Demokratie zu überwinden. Dies zeigte sich in der Kooperation und gemeinsamen Regierungspolitik linker und rechter Parteien nach 1945 und im Amnestiegesetz von 1946 („Togliatti-Amnestie“). 

Drittens veränderte auch in Italien der heraufziehende Kalte Krieg schnell die Prioritäten bei der Ausrichtung von Politik und Militär. Prioritär wurden nur die Positionierung Italiens im westlichen Bündnis, die 1955 zusammen mit der Bundesrepublik zum Beitritt zur NATO führte, und die verlässliche antikommunistische Haltung der Streitkräfte, auch angesichts der innenpolitischen Auseinandersetzungen mit den starken Kommunisten. Exemplarisch hierfür ist etwa die (in den 1990er Jahren aufgedeckte) vom italienischen Militärgeheimdienst in den 1950er Jahren initiierte Operation „Gladio“, die für den Fall einer Invasion des Warschauer Paktes Guerilla- und Sabotageaktionen gegen die Besatzer vorbereiten sollte und möglicherweise in den 1970er und 1980er Jahren auch an rechten Terroranschlägen in Europa beteiligt war.

In diesem Sinne ist der Streit um den aktuellen italienischen Heereskalender wohl weniger Ausdruck einer systematischen Relativierung des Faschismus durch die rechte Regierung in Rom und insbesondere die FdI, als vielmehr ein Symptom eines viel gravierenderen Problems der italienischen Gesellschaft, nämlich des grundsätzlich fehlenden konsequenten Bruchs mit dem Faschismus nach 1943 bzw. 1945.

  

Links/Literatur

Bericht der von den Außenministern der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik am 28.3.2009 eingesetzten Deutsch-Italienischen Historikerkommission, Juli 2012, https://italien.diplo.de/blob/1600270/12748346557a5f376948654ad1deab52/hiko-de-data.pdf .

Cacciatore, Francesco (2021): Stay-behind networks and interim flexible strategy: The “Gladio” case and US covert intervention in Italy in the Cold war. Intelligence and National Security 26 (5): 642-659.

Jansen, Christian (2007): Italien seit 1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, https://www.academia.edu/34537318/Italien_seit_1945

Nuti, Leopoldo (2007): The Ialian “Stay-Behind” network – the origins of operation “Gladio”. Journal of Strategic Studies 30 (6): 955-980.