Innenpolitisches Taktieren in Südtirol
Am vergangenen Donnerstag wurde Arno Kompatscher von der Südtiroler Volkspartei mit den 19 Stimmen seiner neu gebildeten Regierungskoalition aus der konservativen SVP, und ihren rechtspopulistischen bzw. postfaschistischen Bündnispartnern Freiheitliche, Fratelli d’Italia und Lega sowie der zentristischen La Civica zum Landeshauptmann wiedergewählt. Er hat nun die Aufgabe, eine neue, elfköpfige Landesregierung mit (neben dem Landeshauptmann) sieben SVP-Landesräten und je einem Landesrat von den Freiheitlichen, den FdI und der Lega zu bilden, wobei insbesondere der Zuschnitt der jeweiligen Ressorts in der wegen des Sprachenproporzes extra für die italienischsprachigen Parteien erweiterten Regierung Thema sein wird.
Personell haben sich die drei italienischsprachigen Koalitionsparteien nämlich nach langem Hin und Her für zwei Landesräte von FdI bzw. Lega entschieden; die Liste Civica geht dabei leer aus. Allerdings gibt es eine Reihe von Kompensationsleistungen für den Verzicht des Civica-Abgeordneten Angelo Gennaccaro. So soll dieser wohl Landtagsvizepräsident und Regionalassessor mit Sonderkompetenzen für Bozen und Meran werden. Außerdem haben ihm die anderen Koalitionsparteien anscheinend inoffiziell ihre Unterstützung für seine damit aussichtsreiche Kandidatur für den Posten des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Bozen zugesagt, der bislang von Renzo Caramaschi (ebenfalls von der Bürgerliste La Civica) bekleidet wird. 2025 gibt es neue Gemeindewahlen in Südtirol.
Die übrigen Parteien des 35-köpfigen Südtiroler Landtages (Grüne, Team Köllensperger, Süd-Tiroler Freiheit, JWA Wirth Anderlan, Partito Democratico, VITA) haben die neue Mitte-rechts-Koalition in der Debatte vor der Landeshauptmann-Wahl teilweise mit starken Worten gegeißelt und etwa von einem „Pakt mit dem Teufel“ gesprochen. Tatsächlich sieht es jedoch danach aus, dass die SVP und Kompatscher, dem persönlich größere Sympathien für ein Mitte-Links-Bündnis, etwa mit den Grünen, nachgesagt werden, die Zusammenarbeit mit den FdI und der Lega ganz pragmatisch aus taktischen Gründen gesucht haben, weil sie insbesondere zwei große Ziele verfolgen, für deren Realisierung sie die Zustimmung und Kooperation mit der italienischen Zentralregierung benötigen, an der die beiden Rechtsparteien bekanntlich federführend beteiligt sind.
Erstens möchte die Südtiroler Landesregierung die seit 2014 offiziell ausgelaufene und seitdem jeweils nur provisorisch verlängerte Konzession für die Brennerautobahn A22 zugunsten des bisherigen und aktuellen Betreibers, der Brennerautobahn AG/Autostrada del Brennero SpA verlängern. Hauptaktionäre der Gesellschaft, die 2022 einen Gewinn von rund 94 Mio. Euro erwirtschaftete, sind zu fast 85% öffentliche Institutionen Norditaliens, u.a. die Region Trentino-Südtirol (32,3%), die Autonome Provinz Bozen-Südtirol (7,6%), die Autonome Provinz Trient (7,4%) oder die Gemeinde Bozen (4,2%). Das im Sommer 2022 von der Brennerautobahn AG beantragte Verlängerungsprojekt, mit dem eine Neuausschreibung der Konzession und damit potenzielle private Konkurrenz vermieden werden soll, muss vom italienischen Transportministerium noch genehmigt werden, und der gegenwärtige Minister für Infrastruktur und Transport (und erster stellvertretender Ministerpräsident) ist seit Oktober 2022 – der Lega-Parteichef Matteo Salvini.
Zweitens gibt es das ambitionierte Ziel einer Stärkung der Autonomie Südtirols. Das 1971 beschlossene Autonomiestatut (nach dem Ersten Autonomiestatut von 1948, das sich vor allem auf die Region Trentino-Alto Adige bezog), wurde in der Folge Gegenstand intensiver Debatten und Streitigkeiten hinsichtlich seiner sukzessiven Umsetzung und konkreten administrativen Ausgestaltung, wobei auch Österreich als diplomatische Schutzmacht Südtirols eine Rolle spielte. Erst 1992 wurde den Vereinten Nationen eine diesbezügliche Streitbeilegungserklärung beider Staaten vorgelegt. Seitdem wird die Autonomie Südtirols vielfach als „Vorzeigemodell“ für ein friedliches Zusammenleben und die Gewährleistung von Minderheitenrechten betrachtet.
Allerdings war die Südtiroler Autonomie seit 1992 einem komplexen Veränderungsprozess in Richtung Erweiterung, Beibehaltung und Einschränkung, je nach Rechtsbereich und Politikfeld, unterworfen. Insbesondere die italienische Verfassungsreform und ihre anschließende Auslegung durch das italienische Verfassungsgericht, das einer grundsätzlich eher zentralisierungsfreundlichen Rechtsinterpretation folgt, führte in einer Reihe von Bereichen zu einer Beschneidung der effektiven Autonomierechte: „Die Einschränkungen resultieren in erster Linie aus den transversalen staatlichen Kompetenzen im Bereich des Schutzes des Wettbewerbs, der Zivilrechtsordnung, der Festsetzung der wesentlichen Leistungen im Rahmen der bürgerlichen und sozialen Rechte, die auf dem gesamten Staatsgebiet garantiert werden müssen, des Schutzes der Umwelt und des Ökosystems sowie der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ (Obwexer/Happacher 2015: 613f.).
Für die alte wie die neue Landesregierung und insbesondere ihre deutschsprachigen Parteien ist vor diesem Hintergrund ein zentrales Ziel die maximale Wiederherstellung der Autonomierechte, die vor allem nach 2001 eingeschränkt wurden. Dazu ist nach der vom Verfassungsgericht festgestellten Rechtslage aber eine neuerliche Verfassungsänderung notwendig. Ein entsprechender Änderungsvorschlag für ein Verfassungsgesetz zur Anpassung der Statute aller italienischen Regionen und autonomen Provinzen mit Sonderstatus - also Sizilien, Sardinien, Trentino-Südtirol, Friaul-Julisch Venetien und das Aostatal bzw. Bozen-Südtirol und Trentino/Trient - wurde in Zusammenarbeit mit diesen erarbeitet und im September 2023 von der Landesregierung beschlossen. Im Oktober 2023 wurde der Gesetzentwurf an Ministerpräsidentin Giorgia Meloni übergeben. Es ist offensichtlich, dass der Zusammensetzung der neue Südtiroler Regierungskoalition nicht zuletzt die Absicht innewohnt, Kommunikationskanäle innerhalb von FdI sowie Lega zu öffnen und die Regierung und Parlamentsmehrheit in Rom für dieses Vorhaben positiv zu stimmen.
Link/Literatur:
Obwexer, Walter/Happacher, Esther (2015): Rechtsgutachten – Entwicklungen und Veränderungen der Südtiroler Autonomie seit der Streitbeilegungserklärung 1992. Universität Innsbruck, April 2015, https://redas.services.siag.it/redasArticlesAttachment?attachId=939109 .