Der IGH tut, was er tun muss – und wird zum Spielball im Kampf um eine neue, antiwestliche Weltordnung

Am 26. Januar hat der Internationale Gerichtshof seine vorläufige Entscheidung im Sinne einer einstweiligen Verfügung zur Klage Südafrikas gegen Israel wegen Verletzung der Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 medienwirksam bekanntgegeben. Danach erachtet der IGH die Anschuldigungen Südafrikas, Israel begehe im Gaza-Streifen einen Völkermord an den Palästinensern mit überwältigender Mehrheit als ausreichend plausibel bzw. möglich, dass zur Vermeidung nicht rückgängig zu machenden Schadens die Notwendigkeit besteht, einstweilige Maßnahmen zu verhängen, welche Israel zur Verhinderung eines tatsächlichen Genozids zu ergreifen hat. Damit verbunden ist die Annahme der Klage durch den Gerichtshof, die entsprechend nicht von vorneherein als völlig unbegründet erachtet wird und somit Gegenstand eines nun beginnenden, wohl jahrelangen Verfahrens sein wird.

Tatsächlich konnte der IGH wohl kaum anders, als in diesem Sinne zu entscheiden. Allein die hohe Zahl an zivilen Opfern und massiven Zerstörungen im Gaza-Streifen, zusammen mit den teilweise extremen Äußerungen aus den israelischen Rechtsparteien und dem Regierungslager sowie von Soldaten der IDF und israelischen Bürgerinnen und Bürgern über die Kriegsführung und Ziele der Operation „Iron Swords“ und den eindringlichen Warnungen von Seiten der Vereinten Nationen vor einer drohenden humanitären Katastrophe ließ den Richtern wenig Spielraum, bei der prima facie-Prüfung der südafrikanischen Klage, zumindest die theoretische Möglichkeit eines Völkermordes vollkommen auszuschließen. Insbesondere war dies wohl auch deshalb der Fall, weil es sich bei der vorläufigen Entscheidung vom Freitag in keiner Weise auch nur ansatzweise um eine Entscheidung in der Sache ging, sondern vielmehr die ordnungsgemäße Durchführung des eigentlichen Prozesses und die vorsorgliche Schadensbegrenzung für die Opfer im Mittelpunkt der juristischen Fragen standen.  

Dies wird dann deutlich, wenn man die einstweilige Verfügung des IGH in der vorliegenden Sache mit denjenigen zu den Klagen Gambias gegen Myanmar von 2020 (wegen Völkermord an den Rohingya) und der Ukraine gegen Russland von 2022  (auf Unterlassung des Vorwurfs des Völkermordes im Donbass und des damit begründeten militärischen Angriffs auf die Ukraine) vergleicht: Zwar muss Israel spezifische Vorkehrungen gegen genozidale Verhaltensweisen (inklusive deren Verschleierung durch Zerstörung von Beweismaterial) und Äußerungen ergreifen, zur Verbesserung der humanitären Lage im Gaza-Streifen beitragen, insbesondere durch die Gewährleistung der grundlegenden Versorgung der Zivilbevölkerung und darüber innerhalb eines Monats berichten. Dies impliziert jedoch letztlich vor allem die Bestätigung der ohnehin gegebenen Verpflichtung, sich an die Bestimmungen der Völkermordkonvention (und in diesem Zusammenhang das humanitäre Völkerrecht in Bezug auf die Zivilbevölkerung) zu halten. 

Im Unterschied der Junta in Myanmar geht das Gericht mit der vorläufig einmaligen Berichtspflicht innerhalb von vier Wochen außerdem wohl davon aus, dass die israelische Regierung in kurzer Zeit entsprechende Maßnahmen ergreifen und dokumentieren kann, nachdem solche Mechanismen in den IDF bereits bestehen und die Rechtsstaatlichkeit Israels selbst nicht in Frage gestellt ist. (So hat das israelische Verfassungsgericht bekanntlich unlängst und mitten im Krieg eine Ausweitung der Kompetenzen der Regierung gegenüber der Justiz verhindert. Offen bleibt dabei natürlich die Interpretation des humanitären Völkerrechts durch die israelischen Behörden im aktuellen Konflikt.) Im Fall Myanmars hat der IGH demgegenüber 2020 verfügt, dass ein Bericht über die insgesamt praktisch gleichlautenden Auflagen innerhalb von vier Monaten vorzulegen und bis zum Abschluss des Verfahrens jedes halbe Jahr zu aktualisieren ist. 

2022 wurde Russland dazu verpflichtet, die militärischen Aktivitäten russischer Truppen und der mit ihnen verbündeten irregulären Verbände umgehend einzustellen (woran sich Russland bekanntlich nicht gehalten hat). Eine solche Verfügung eines sofortigen Waffenstillstands, wie sie von Südafrika auch gefordert wurde, hat der IGH nicht erlassen.  

Damit hat der IGH im Fall Israels und Gazas letztlich das Minimum dessen an Maßnahmen verhängt, was ihm angesichts der Rechtslage möglich war. Ohne eine genaue inhaltliche Prüfung der Vorwürfe Südafrikas, welche dem eigentlichen Prozess vorbehalten bleibt, ging es zum jetzigen Zeitpunkt aus juristischer Sicht lediglich darum festzustellen, ob die Gefahr eines Völkermords bestehen könnte bzw. ob vorsorglich Maßnahmen ergriffen werden müssten, um auch nur die Möglichkeit eines solchen bis zur Urteilsfindung auszuschließen. Nachdem die konkreten Ursachen der hohen Zahl ziviler Opfer und der Versorgungskrise im Gaza-Streifen hinsichtlich der Intentionen der israelischen Seite nicht Gegenstand der Entscheidung waren, sprach bereits allein die Tausenden ziviler Opfer des israelischen Militäreinsatzes für eine Weiterverfolgung und Prüfung der südafrikanischen Klage, auch wenn es der Gerichtshof nicht versäumte, das Vorgehen der IDF in den Zusammenhang mit den Hamas-Angriffen vom 7. Oktober 2023 und damit implizit mit dem Selbstverteidigungsrecht Israels in Verbindung zu bringen.   

Dass der essentielle Punkt juristischer Differenzierung in der politischen Debatte kaum eine Rolle spielt, sondern viele in der IGH-Entscheidung eine gewisse Vorverurteilung Israels sehen, zeigt sich in den  Reaktionen, insbesondere der Konfliktparteien im Gaza-Krieg: 

Wie erwartet herrscht in Israel größte Entrüstung über die mangelnde Würdigung des Selbstverteidigungsrechts des Landes gegen den Terror der Hamas und die Bemühungen der IDF um eine größtmögliche Schonung der Zivilbevölkerung entgegen der auf hohe zivile Opfer ausgerichteten Taktik der Hamas. So spricht selbst der ansonsten durchaus regierungskritische und um Ausgewogenheit bemühte Herausgeber der Times of Israel, David Horovitz, deutlich verbittert davon, dass „the court, in its rulings, accepted the South African jurists’ misrepresentation of the nature of the war in Gaza — a territory governed by a terrorist organization that, having massacred Israelis inside Israel on October 7 and vowed to keep on doing so until Israel is destroyed, has since sought to kill and repel Israel’s troops by fighting from within Gaza’s civilian populace — in, around and under the Strip’s homes, schools, mosques and hospitals. (…) It should be obvious, but manifestly is not, that if Israel had any intent to commit genocide against the Palestinians in Gaza, there was nothing to stop it bombing Gaza to oblivion. It has one of the world’s most powerful air forces, and absolute air supremacy over the Gaza Strip. Except it wouldn’t and couldn’t and didn’t do any such thing. Its leadership would not have ordered such an onslaught, and its pilots would have refused to carry it out if they were so ordered. Coming on the eve of International Holocaust Remembrance Day, and relating to the consequences of an event on October 7 in which more Jews were killed than on any single day since the Holocaust, the very timing of The Hague’s ruling underlined a new post-World War II low for the ostensible protectors of humanity and their capacity to distinguish between right and wrong, aggressors and defenders. (…) The ruling gives at least initial credence to an allegation that seeks to deny Israel the right to protect itself against an enemy that openly seeks the genocide of the Jews; an enemy that carried out an exultant slaughter on October 7, executing and raping Jews, Arabs and nationals from dozens of other countries; an enemy that subverted all means to build its terrorist army at the expense of all humane interests for Gazans. And the measures ordered by the court seek to constrain Israel’s capacity to defend itself while easing the genocidal Hamas’s battle to survive and massacre Israelis again. Far from trying to wipe out the population of Gaza that Hamas cynically uses as its human shields, and that many Gazans profoundly support, Israel’s conduct of its war against Hamas has been overtly and declaredly designed to protect noncombatants — notably by pleading with them to leave warzones, and overseeing humanitarian corridors for their evacuation even at the obvious cost of Hamas gunmen, who fight in civilian clothes, fleeing alongside them. Yes, as the court stated, there have been thousands of civilian fatalities in Gaza, most Gazans are displaced, the devastation is vast, the humanitarian situation is dire. But while the IDF has inevitably killed many innocent civilians, these are overwhelmingly the consequences of a war that Israel did not want, begun by Gaza’s terrorist-government, and fought in the territory where Hamas cynically places Gazans in harm’s way and abuses their needs and rights and facilities in its battle against Israel. The blinkered overwhelming majority on the court stood up for a terrorist army that trained to kill Jews en masse inside a territory that Israel previously controlled but chose to unilaterally leave in the hope that it would be rewarded with tranquility. Eighteen years after it pulled thousands of Jewish civilians out of Gaza’s settlements, and withdrew its military forces to the international lines, Israel instead got October 7, and a duped or immoral World Court that, on Friday, essentially backed the monstrous aggressor. (…) ‘They came for the Jews, and I did not speak out…,‘ wrote Martin Niemöller in 1946, of the Nazis and the silence of the intellectuals and others who failed to confront them. On October 7, Hamas came for the Jews, the Arabs and everybody else who seeks life in the world’s only Jewish-majority state. And the World Court did speak out… offering succor to the murderers.“  

Demgegenüber wird die IGH-Entscheidung von den Unterstützern der palästinensischen Seite und der Hamas natürlich sehr begrüßt, selbst wenn es eine gewisse Enttäuschung darüber gibt, dass der Gerichtshof keine unmittelbare Einstellung der Kampfhandlungen anordnete – welche von Seiten der IDF wohl ohnehin nicht erfolgt wäre, wie häufig quasi zum Trost ergänzt wird. So ordnet etwa Haidar Eid, Professor an der Al-Aqsa-Universität in Gaza und Kommentator für Al Jazeera, die einstweilige Verfügung des IGH in das verbreitete antisemitische und antiwestliche palästinensische Opfer-Narrativ ein und feiert sie als entscheidenden Schritt für das Aufbegehren des Globalen Südens gegen den kolonialen Westen und seine „Siedler-Kolonie“ Israel: „we can confidently say a new world order is in the making. The World Court confirmed today that South Africa’s charge under the Genocide Convention that ‘Israel has engaged in, is engaging in and risks further engaging in genocidal acts against the Palestinian people in Gaza’ is ‘plausible’. It has further ruled that Israel must ‘take all measures’ to avoid acts of genocide in Gaza. The court has stopped short of calling for an immediate and permanent ceasefire, which has already been demanded by an absolute majority of world nations. Still, most of the ‘provisional measures’ called for by the Republic of South Africa have been endorsed by the court. It is difficult to see how Israel can implement these measures and fulfil its obligations under the Genocide Convention, without agreeing to a ceasefire. There is no indication, of course, that Israel has any intention of heeding the Court’s provisions. In fact, since the ICJ heard South Africa’s case two weeks ago, Israel has doubled down on its genocidal acts in Gaza. (…) So Israel’s message to the Court, and the world at large, is clear: It does not care for the opinion, demands or “measures” of any international institution – legal or political. It will do as it pleases. All in all, more than 1 percent of the population of Gaza has been killed and another 2.2 percent has been injured in the past three months. Most of the enclave has been destroyed, and almost all of its more than two million residents have been displaced. (…) In this context, it is no surprise that the World Court has found it ‘plausible’ that Israel may be committing a genocide in Gaza. But, given its lack of interest in complying with international law – and the unconditional support it enjoys from the West – there is little reason to expect it to alter its conduct due to the court’s damning interim ruling. So why did South Africa take Israel to the ICJ, and why does today’s ruling really matter? As affirmed by South Africa, ‘Israel’s genocidal acts’ must be understood ‘within the broader context of Israel’s 75-year apartheid’. Israel has committed many violations of international law since 1948, including war crimes and crimes against humanity. Its apartheid regime and illegal occupation denied the most basic human rights of the Palestinians for nearly a century. It passed a racist ‘nation-state law’ that states that ‘the right to exercise national self-determination’ in Israel is ‘unique to the Jewish people’, establishes Hebrew as Israel’s official language, and  establishes ‘Jewish settlement as a national value’ and mandates that the state ‘will labor to encourage and promote its establishment and development.’ After ethnically cleansing most of historical Palestine of its indigenous population through massacres and theft in 1948, it went on to imprison the population of Gaza within the Strip (…). Since the moment of its very inception, Israel worked to eliminate the indigenous population of Palestine through ethnic cleansing, apartheid, ghettoisation and segregation. And now, it is committing the very first livestreamed and globally watched genocide in human history. (…) South Africans recognised that taking no action on Israel’s continuing genocide in Gaza would have meant no lesson had been learned from the Sharpeville and Soweto massacres, from everything they endured under settler-colonial rule, from years of apartheid. They realised that now that Israel’s occupation and oppression reached their genocidal climax, the international community no longer has the luxury of waiting, issuing statements and hoping for the best. (…) Israel may not heed the court’s rulings and provisions, but South Africa’s historic stance will still have consequences. As stated by the Department of International Relations and Cooperation of South Africa after the ICJ’s interim decision: ‘Third States are now on notice of the existence of a serious risk of genocide against the Palestinian people in Gaza. They must, therefore, also act independently and immediately to prevent genocide by Israel and to ensure that they are not themselves in violation of the Genocide Convention, including by aiding or assisting in the commission of genocide. This necessarily imposes an obligation on all States to cease funding and facilitating Israel’s military actions, which are plausibly genocidal.’ With this case, South Africa has put not only Israel, but the entirety of the global justice system on trial. This case is a major turning point for humanity, because it marks the first time in history when a Global South country bravely crossed a red line drawn by the colonial West and demanded its favourite settler colony, Israel, be held to account for the crimes it has long been committing against an Indigenous people. Today, thanks to South Africa, the entire colonial West, and its centuries-long history of theft, dispossession, and injustice is on trial at the World Court. Future generations will remember January 26, 2024, as the day on which the world has finally decided to hold a genocide state, and its powerful backers, accountable for repeated, longstanding violations of international law. Yes, a new world order is in the making.”

Selbst wenn sie die humanitäre Intention und Bedeutung der IGH-Entscheidung in den Mittelpunkt rücken, tun sich auch renommierte INGOs wie Oxfam und Amnesty International in ihren ersten Stellungnahmen nicht zuletzt dadurch hervor, dass auch sie den spezifischen Charakter des Genozid-Vorwurfs nicht zur Kenntnis nehmen und ihn undifferenziert mit dem Begriff des Kriegsverbrechens vermengen, ganz abgesehen davon, dass der Auslöser der Terrorangriffe der Hamas nicht erwähnt wird. (Immerhin fordert AI ein umfassendes Waffenembargo nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen bewaffnete palästinensische Gruppen, und die Freilassung aller Geiseln durch die Hamas.)  

Dass Differenzierung und juristische Präzision notwendig, aber nicht immer ausreichend beachtet werden, zeigt sich selbst in der Einschätzung der IGH-Entscheidung durch Experten aus dem Bereich Internationale Beziehungen, Sicherheitspolitik und (tw.) Völkerrecht. Ganz offensichtlich ist die Frage des Gaza-Krieges eine, in der sich abstrakte rechtlichen Fragen nur sehr schwer von den jeweiligen politisch-ideologischen Auffassungen und Interpretationsmustern trennen lassen.

Was waren vor diesem Hintergrund überhaupt die Motive der wie gesehen teilweise hochgelobten südafrikanischen Regierung, Israel mit dem Genozid-Vorwurf vor den IGH zu bringen? Zum einen spielt hier sicherlich die ehrlich empfundene Sorge um die palästinensische Bevölkerung im Gaza-Streifen und die Solidarität mit der palästinensischen Sache eine Rolle. Der regierende ANC hat traditionell sehr enge Beziehungen zur PLO und sieht die Frage der israelischen Besatzung und eines palästinensischen Staates als Parallele zur eigenen Geschichte und den Freiheitskampf der schwarzen Südafrikaner gegen das weiße Regime bis zur Annäherung und Demokratisierung nach 1989. In diesem Sinne sind Südafrikaner (bzw. der ANC) und die Palästinenser (bzw. die Fatah und wohl sogar die Hamas) vereint im Kampf gegen ein „Apartheid“-Regime, ein Begriff, der auch in antizionistisch bzw. antisemitischen Kreisen im Westen durchaus beliebt ist – was die Grobschlächtigkeit des Vergleichs nicht mindert. 

Zum anderen ist nicht zu übersehen, dass ein wichtiger Beweggrund für die Klage beim IGH zweifellos auch außenpolitischer Art ist: Südafrika versucht erstens, seinen angeschlagenen Ruf in Bezug auf die Einhaltung und Förderung des Völkerrechts zu verbessern, nachdem sich die Regierung etwa im Jahr 2015 weigerte, ihrer Verpflichtung als Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs nachzukommen, den sudanesischen Diktator Omar al-Bashir zu verhaften, gegen den seit 2009/10 internationale Haftbefehle wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid vorlagen. Auch die lauwarme Positionierung Südafrikas im Hinblick auf die russische Aggression gegen die Ukraine 2014/2022 und den Streit um den angeblichen Völkermord in der Ostukraine fiel wenig klar und völkerrechtskonform aus. 

Zweitens will sich Südafrika mit seiner Initiative als Stimme des Globalen Südens produzieren und so sein internationales diplomatisches Gewicht erhöhen. Als Mitglied der BRICS ist das Land einer der Vorreiter einer neuen, nicht mehr vom Westen und insbesondere den USA dominierten Weltordnung. Insofern ist die Klage gegen Israel nicht zuletzt auch ein Instrument zur Selbstprofilierung gegenüber dem Westen und den Vereinigten Staaten als Hauptunterstützer Israels. Dass Israel wegen Genozids und nicht (deutlich plausibler) wegen Kriegsverbrechen angeklagt wurde, war entsprechend wohl hauptsächlich dem Umstand geschuldet, dass der IGH nicht für die Ahndung von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht zuständig ist und Israel (offensichtlich aus nachvollziehbaren Gründen) keine Partei des IStGH ist. Somit blieb der südafrikanischen Regierung rechtstechnisch kaum eine andere Möglichkeit, Israel öffentlichkeitswirksam vor Gericht zu stellen, als der Weg über die Völkermordkonvention, welche Israel 1950 (Südafrika 1998) ratifiziert hat. Man sollte sich bei der Betrachtung des Falles also vor voreiligen oder gar ethisch-moralisch verbrämten Schlüssen hüten.  

Inwieweit am Ende des nun anstehenden Prozesses, in dem die Bundesrepublik bereits angekündigt hat, als unterstützende Partei für Israel teilzunehmen, tatsächlich eine Verurteilung Israels steht, ist äußerst zweifelhaft, nicht zuletzt nachdem die Crux der Beweisführung im notwendigen Nachweis einer tatsächlichen Vernichtungsabsicht liegt. Dass zudem selbst die Äußerungen von UN-Institutionen im gegenwärtigen Krieg mit größter Vorsicht zu genießen sind, zeigt sich an der anscheinenden Involvierung von UNRWA-Mitarbeitern in die Hamas-Angriffe vom 7. Oktober 2023, die bereits zur Suspendierung der Zahlungen verschiedener westlicher Staaten, darunter auch Deutschlands, geführt hat. Dies ist umso weniger überraschend, als insbesondere von konservativer Seite in den USA seit langem auf den propalästinensischen bzw. antiisraelischen, vielleicht sogar antisemitischen Bias in den Vereinten Nationen verwiesen wird.  

Was jedoch jetzt schon ziemlich sicher sein dürfte, ist, dass der leichtfertige und undifferenzierte Gebrauch des Begriffs des Völkermords, sei es aus moralischer Entrüstung, sei es aus politischem Kalkül, den Intentionen und der Wirksamkeit der Völkermordkonvention einen Bärendienst erwiesen hat: Der ungeheuerliche Tatbestand des Genozids wird vom Menschheitsverbrechen zum „ordinären“ Kriegsverbrechen profaniert und der IGH zu einem Spielball politischer Meinungsmache im Kampf um eine neue, nicht mehr vom Westen dominierte Weltordnung relegiert.