Prigoschin auf den Spuren Stenka Rasins?

Nun ist der lange schwelende Machtkampf zwischen dem Chef der Wagner-Gruppe und dem militärisch-politischen Establishment Russlands zur offenen Auseinandersetzung eskaliert. Jewgeni Prigoschin hat seine Söldnerarmee in Marsch gesetzt und mindestens die Region um Rostow am Don unter seine Kontrolle gebracht, um nach eigenen Angaben Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow für ihre Inkompetenz und ihre Täuschung des russischen Volkes über die Notwendigkeit des Krieges gegen die Ukraine zur Verantwortung zu ziehen. Präsident Putin ist an der Situation zweifellos in hohem Maße selbst schuld, nachdem er in den letzten Jahren immer mehr Macht an sein Umfeld delegiert hat und seine eigene Position selbst mehr und mehr dadurch abgesichert hat, dass er bei den unvermeidlichen Konflikten zwischen seinen Untergebenen die entscheidende Schiedsrichterrolle einnahm. Dieser Ansatz des „divide et impera“ erlaubte es ihm, sich vor etwaiger Kritik abzuschirmen, indem stets andere für Fehler verantwortlich gemacht werden konnten – wie im Fall des Ukrainekrieges eben das Verteidigungsministerium und der Generalstab. Zugleich hat er jedoch dazu geführt, dass sich die systeminternen Konflikte weiter verschärften, bis zu dem Punkt, an dem sich Putin - zu spät – eindeutig auf eine der Parteiungen schlagen musste, damit ihm die Macht nicht doch entgleitet. 

Wie der jetzige Kampf zwischen der Wagner-Gruppe und den russischen Staatsorganen ausgehen wird, ist im Augenblick noch offen; allein die zahlenmäßigen Kräfteverhältnisse sprechen aber nicht für die aufständischen Söldner. Dies gilt zumindest so lange, als es keine größere Zahl von Überläufern aus den Sicherheitskräften, etwa des FSB oder der Nationalgarde gibt, und die Bevölkerung weiterhin passiv verhält, so wie sie es in den langen Jahren des Putin-Regimes verinnerlicht hat. Entsprechend hat sich Prigoschin womöglich verkalkuliert, indem er sein in der Ukraine und im Ausland erworbenes Prestige im Volk und in den russischen Streitkräften sowie die Loyalität Putins ihm gegenüber überschätzt und die Bedeutung des militärischen Establishments für den den Präsidenten unterschätzt hat. Auf der anderen Seite sah er wahrscheinlich keine andere Möglichkeit, als alles auf die riskante Karte der Meuterei zu setzen, nachdem bis Ende Juni alle Privatarmeen und Söldnertruppen in Russland unter das Kommando des Verteidigungsministers gestellt werden sollen, womit er als Außenseiter der russischen Eliten zweifellos seine militärische Hausmacht und seinen politischen Einfluss verloren hätte. 

Bei aller Vorsicht gegenüber historischen Analogien erinnert die gegenwärtige Lage Prigoschins in gewisser Weise an den Rasin-Aufstand in Russland in den Jahren 1667-71. Der Kosakenführer Stenka Rasin erwarb sich Mitte des 17. Jahrhunderts großes Renommee im Wolga-Raum zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer, unter anderem durch seine Beutezüge als Pirat und seine durch entsprechende Brutalität zelebrierte „Männlichkeit“. Zum Aufstand der halbautonomen Donkosaken gegen den russischen Staat kam es unter anderem dadurch, dass Rasins Bruder, der eine Abteilung Kosaken quasi als Söldnerführer im Russisch-Polnischen Krieg (1658-67) kommandiert hatte, als Deserteur hingerichtet wurde, nachdem er seine Einheit entgegen seiner abgelehnten Bitte um Entlassung nach Hause bringen wollte. Der Aufstand gewann schnell an Fahrt, nicht zuletzt dadurch, dass sich viele Bauern, die nach der Kodifizierung der Leibeigenschaft unter Zar Alexei I. (1649) von ihren Schollen flohen, Rasin anschlossen. Gleichwohl kämpfte Rasin nach eigener Aussage explizit nicht gegen den Zaren, dem er die Treue schwor, sondern lediglich gegen die ausbeuterische Führungsschicht der Bojaren (niedriger Adel und Großgrundbesitzer) und korrupte Beamte der expandierenden russischen Verwaltung. Nach überraschend großen Anfangserfolgen wurde der Aufstand jedoch von zaristischen Truppen niedergeschlagen und Rasin 1671 in Moskau hingerichtet. Heute gibt es in Rostow am Don (!) ein Denkmal, das Rasin als Freiheitskämpfer und Idol der Donkosaken feiert.   

Für Putin ist der Söldneraufstand der Wagner-Gruppe in jedem Fall ein Zeichen seiner labiler werdenden Machtposition im politischen System Russlands, sei es aufgrund der steigenden Fraktionierung und in-fights in der Elite und wachsender Unzufriedenheit in der Gesellschaft, sei es aufgrund seiner eigenen physisch-gesundheitlichen Schwäche oder zunehmenden ideologischen Weltfremdheit. Allerdings kann die gegenwärtige Krise um Progoschin – vorausgesetzt, der Präsident verfügt noch über eine entsprechende Willenskraft und Zweckrationalität - auch ein Instrument für Putin werden, um das Ruder wieder fester in die Hand zu nehmen und unter dem Hinweis auf den Krieg gegen den „Westen“ und der Umsturzambitionen des Wagner-Chefs in einer Säuberungswelle unliebsame Personen in den Eliten und im Staatsapparat zu beseitigen und Russland vollends in eine personalisierte Diktatur zu verwandeln. Man denke nur an die Konsequenzen des gescheiterten „Putsches“ in der Türkei nach 2016. In diesem Sinne tut Prigoschin seinem (wohl ehemaligen) Freund Putin womöglich sogar einen Gefallen.