Operetten-Staatsstreich, inszenierter Scheinaufstand oder Anfang vom Ende für Putin?

So schnell er begonnen hat, hat der Aufstand der Wagner-Gruppe unter Jewgeni Prigoschin offenbar sein Ende gefunden. Nach dem gegenwärtigen Stand hat der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko einen Deal zwischen Prigoschin und Wladimir Putin vermittelt, wonach die Wagner-Söldner ihre Meuterei aufgeben und in ihre Feldlager (hauptsächlich in Donetzk und Lukansk) zurückkehren; im Gegenzug werden sie und ihr Anführer nicht unter Anklage gestellt, und Prigoschin verlässt Russland ins Exil in Belarus. 

Die Frage ist nun, wie der Konflikt weitergeht bzw. welche Konsequenzen er für die Stabilität des Regimes Putins und den Krieg in der Ukraine hat. Vier Dinge erscheinen zunächst sicher: 

Erstens haben die offenbar sorgfältig vorbereitete Einnahme Rostows am Don und der weitgehend widerstandslose Vormarsch der Wagner-Söldner über etwa 500 Kilometer bis nach Woronesch auf dem halben Weg nach Moskau – nach Prigoschins Angeben sogar bis 200 Kilometer vor Moskau – erneut gezeigt, wie zahlenmäßig, organisatorisch und motivationsbezogen die russischen Streit- und Sicherheitskräfte sind. Entsprechend ist der Ablauf des Aufstands peinlich für die gesamte russische Führung. 

Zweitens vermittelt die Wagner-Krise das Bild einer massiven Schwächung der Position Putins im politischen System Russlands. Denn er konnte die Eskalation des Konkurrenzkampfes zwischen seinem Verteidigungsministerium und der von ihm großgemachten Söldnertruppe nicht verhindern und musste einem Kompromiss zur Beendigung der Meuterei zustimmen, die im deutlichen Gegensatz zur in seiner TV-Rede gestern Morgen erhobenen Forderung nach konsequenter Bestrafung der Verräter steht. 

Drittens stellt sich die Frage nach der Zukunft Prigoschins, der offenbar durch seine Aktivitäten in der Ukraine und seine Social Media-Präsenz mit der massiven Kritik an der Inkompetenz der russischen Militärführung anscheinend durchaus viele Sympathisanten in Russland gewonnen hat. Wird er nun Ruhe geben oder von Belarus aus gar versuchen, eine politische Karriere zu starten? 

Viertens, und das ist für den Krieg in der Ukraine relevant, wird die russische Armee nun wohl versuchen, die Wagner-Söldner durch entsprechende Verträge in die regulären Streitkräfte zu integrieren, um sich die Dienste dieser kampferprobten und skrupellosen Kämpfer zu sichern. Es ist aber angesichts der Konflikte zwischen der PMC und der Armee sowie der anscheinend starken Loyalitätsbeziehungen zu Prigoschin kaum anzunehmen, dass alle oder auch nur die Masse der Wagner-Männer auf ein solches Angebot eingehen werden. Im Endeffekt dürfte den russischen Truppen in der Ukraine ein durchaus wichtiger Teil ihrer kampfkräftigsten Einheiten abhanden kommen, wohl sehr zur Freude der Ukrainer.

Wie gewichtig diese Aspekte sein werden, und ob damit tatsächlich eine schnellere Beendigung der Regierung Präsident Putins oder des Ukraine-Krieges verbunden sein wird, hängt von den konkreten Hintergründen der Meuterei und ihrer Auflösung, v.a. den Details des Deals mit Prigoschin (der von der russischen Führung ungeachtet aller Versprechungen bei Bedarf zweifellos auch in Belarus eliminiert werden könnte) sowie von der damit verbundenen Reaktion nicht zuletzt Putins selbst ab. War die Rebellion mehr als ein Ausdruck der Ambitionen eines sich selbst und seine Truppe überschätzenden Söldnerführers und ein ernsthafter Versuch, eine personelle und inhaltliche Umorientierung der russischen Führung zu erzwingen, so wäre sie ein Zeichen für einen zunehmenden Autoritätsverlust des Präsidenten, einer wachsende Selbstlähmung einer zerstrittenen, korrupten Elite und einer allmählichen (für Putin potenziell gefährlichen) Politisierung der russischen Gesellschaft, welche das Narrativ der Herrschaft Putins inklusive des angeblichen Verteidigungskampfes gegen den Westen in der Ukraine allmählich in Zweifel zieht. In diesem Sinne könnte die Wagner-Meuterei wirklich ein Fanal für eine zu Ende gehende Herrschaft Putins sein – mit all den Unwägbarkeiten, die sein Abgang mit sich bringen würde. 

Allerdings kann man die Situation auch gegenteilig interpretieren: Mit dem Aufstand könnte Putin ein zentrales Argument an die Hand gegeben worden sein, den Krieg gegen die Ukraine unter Abwälzung der Verantwortung von Putin auf Prigoschin oder das Verteidigungs- und Sicherheitsestablishment Russlands relativ zügig zu beenden und trotz des fehlenden Erfolges die Position des Präsidenten wieder zu stabilisieren. 

Zusammen mit dem überraschenden Deal zur schnellen Beendigung des Aufstands und der augenscheinlichen Nachgiebigkeit des Präsidenten gegenüber den Meuterern könnte dies natürlich auch ein Indiz dafür sein, dass die ganze Angelegenheit möglicherweise sogar mit Putins Wissen stattgefunden, schlimmstenfalls sogar inszeniert war – laut US-Geheimdienstkreisen war er zumindest bereits im Vorhinein informiert. In diesem Fall wäre die Rebellion wenigstens mit stillschweigender Billigung Putins erfolgt, um im Nachgang neue Optionen zur Umgestaltung und Säuberung des Staatsapparates zu nutzen, auch etwa im Verteidigungsministerium, bei den Streitkräften, den Geheimdiensten und den sonstigen Sicherheitsorganen. Der Verweis auf das Versagen der Sicherheitskräfte und den Deal mit Prigoschin als entsprechend einzige Möglichkeit, einen Umsturz abzuwenden, könnte das zentrale Argument dafür sein, in Folge einer fundamentalen Bedrohung des russischen Staates und der Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zusätzliche autoritäre Maßnahmen zu ergreifen und Personalrochaden vorzunehmen, um die Kontrolle Putins über das System wieder zu stärken und zu zentrieren. Damit würde Prigoschins Aufstandsversuch tatsächlich Parallelen zum Putschversuch in der Türkei 2016 aufweisen, der von Präsident Erdogan zumindest konsequent genutzt wurde, seine Herrschaft auszubauen. 

Verbindet man dieses - zugegebenerweise verschwörungstheoretisch anmutende, aber angesichts des Geheimdiensthintergrunds Putins und seiner Silowiki-Entourage vielleicht nicht völlig abwegig anmutende - Argument mit der offensichtlichen ideologischen Verzerrung von Putins Weltwahrnehmung, könnte im Fall einer weiteren Autokratisierung Russlands schlimmstenfalls auch eine Verstärkung der Anstrengungen im Ukraine-Krieg die Folge der Wagner-Meuterei sein. Die nächsten Tage und Wochen werden zeigen, in welche Richtung sich das Regime Wladimir Putins weiterentwickelt.