Ein Supreme Court-Urteil für mehr Wahlgerechtigkeit?

Während sich die mediale Berichterstattung über US-amerikanische Wahlen hierzulande gegenwärtig auf den sich entwickelnden Vorwahlkampf der Republikaner um die Präsidentschaftskandidatur für 2024 und die damit verbundenen Befürchtungen einer Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus konzentriert, wird tendenziell vergessen, dass im System der Checks and Balances der Vereinigten Staaten natürlich auch den Mehrheitsverhältnissen im Parlament eine essentielle Rolle zukommt. Dies wurde unlängst am wochenlangen Tauziehen zwischen der republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus und Präsident Biden um die Anhebung der durch die Haushaltsgesetzgebung genehmigten Schuldenobergrenze der USA deutlich, das schließlich mit einem Kompromiss endete.  

Aufgrund des Mehrheitswahlprinzips bei US-Kongresswahlen ergibt sich nun ein besonderes Problem, das typisch ist für diese Art des Wahlrechts: Durch einen entsprechenden Zuschnitt von Wahlbezirken ist es möglich, teilweise massiv auf den Ausgang des Wahl und die Sitzverteilung im Repräsentantenhaus Einfluss zu nehmen. Dieses, seit Anfang des 19. Jahrhunderts in den USA von beiden großen Parteien auf Ebene der Staaten (die für die Wahlkreisorganisation auch für Bundeswahlen zuständig sind) praktizierte Vorgehen, um die eigenen Wahlchancen zu verbessern, ist als „Gerrymandering“ bekannt und geht auf den ersten entsprechenden Fall in Massachusetts unter dem damaligen Gouverneur Elbridge Gerry im Jahr 1812 zurück.

Gerrymandering, welches der ehemalige kalifornische Gouverneur Arnold Schwarzenegger vor ein paar Jahren an der University of Southern California anschaulich erklärte, wird in den USA nicht zuletzt dadurch erleichtert, dass die Wahlbezirke alle zehn Jahre gemäß der aktuellen Volkszählung neu zugeschnitten werden müssen, um demographischen Veränderungen Rechnung zu tragen und rechnerisch zu gewährleisten, dass die Stimmen der Wahlberechtigten weiterhin gleichgewichtet bleiben. Dieser grundsätzlich positive Gedanke der Wahlgerechtigkeit wird jedoch insbesondere in den südlichen Bundesstaaten von republikanischen Parlamentsmehrheiten dazu genutzt, um Wahlbezirksgrenzen so zu konstruieren, dass insbesondere die schwarze Bevölkerung, von dem man annimmt, dass sie überwiegend die Demokraten wählt, jeweils in der Minderheit sind, so dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass überproportional viele Wahlkreise an die Republikaner gehen. Genau dies ist in Alabama passiert, wo 2021 die sieben Wahldistrikte für das US-Repräsentantenhaus so zugeschnitten wurden, dass es in sechs von ihnen eine weiße – nach der Parteilogik republikanische - Mehrheit gibt, obwohl die – eher demokratisch eingestellten - Afroamerikaner über ein Viertel der Bevölkerung stellen.  

Am letzten Donnerstag hat nun der US Supreme Court mit einer knappen 5:4-Mehrheit einer Klage gegen die Wahlbezirksreform in Alabama stattgegeben und verfügt, dass einer der dortigen Wahlbezirke zusätzlich so organisiert werden muss, dass er eine schwarze Bevölkerungsmehrheit aufweist. Arithmetisch entspräche dann der Anteil von zwei von sieben Wahldistrikten mit knapp 29 Prozent ziemlich genau dem Wähleranteil der Afroamerikaner mit rund 27%. Der Supreme Court berief sich dabei auf Abschnitt 2 des Voting Rights Act von 1965. Dieser untersagt „voting practices or procedures that discriminate on the basis of race, color, or membership in one of the language minority groups “. Der Spruch des Gerichts ist umso überraschender, als der Supreme Court seit der Trump-Präsidentschaft bekanntlich eine (erz-) konservative Mehrheit aufweist. Gleichwohl verfing das zentrale Argument der Befürworter einer Zurückweisung der Klage, dass das Wahlrecht nicht für Zwecke „missbraucht“ werden dürfe, die nicht entsprechend in der Verfassung verankert seien (nämlich die Gleichstellungspolitik), bei den meisten der Richter nicht. 

Das Urteil hat möglicherweise auch Auswirkungen auf andere Bundesstaaten mit ähnlich gelagerten Fällen, insbesondere Louisiana und Georgia. So ist Louisiana im US-Repräsentantenhaus mit sechs Abgeordneten vertreten, von denen – laut der Demokraten aufgrund des Zuschnitts der Wahlbezirke – jedoch nur einer ein (schwarzer) Demokrat und alle fünf anderen (weiße) Republikaner sind, obwohl die Bevölkerung zu einem Drittel aus Afroamerikanern besteht. Ob auch dort die Wahlgesetze tatsächlich entsprechend geändert werden, bleibt abzuwarten, auch wenn die ersten Reaktionen dort in diese Richtung weisen. 

Aus politikwissenschaftlicher Perspektive ist das Urteil des Supreme Court unabhängig von den konkreten US-amerikanischen Rechtsgrundlagen vor allem auch aus vier Gründen interessant: 

(1) Es demonstriert, dass das ohnehin bestehende prinzipielle Problem der Repräsentation in einem reinen Mehrheitswahlrecht – im Extremfall wird knapp die Hälfte der Bevölkerung nicht im Parlament vertreten – noch durch seine parteipolitische Instrumentalisierung verschärft werden kann, mit all den resultierenden, potenziell gravierenden Konsequenzen für die Legitimationsgrundlage einer Demokratie. 

(2) Ebenfalls im Hinblick auf die Repräsentationsfrage verweist es auf die Frage, nach welchen Kriterien Wahlbezirke überhaupt zugeschnitten werden sollen. Reicht es aus, wie im vorliegenden Fall auf die Hautfarbe zu fokussieren, oder müssen nicht weitere gerechtigkeitsrelevante Faktoren berücksichtigt werden, etwa Gender- oder sozioökonomische Aspekte? Stößt man dann nicht schnell an Komplexitätsgrenzen, die dem oben genannten Argument gegen eine Verbindung von Wahlbezirksgrenzen und Gleichstellungspolitik aus rein praktischen Gründen eine gewisse Plausibilität verleihen? 

(3) Aus methodischer Sicht ist darauf hinzuweisen, dass die unterstellte Gleichung „schwarz = Demokrat“ bzw. „weiß = Republikaner“ womöglich allzu übersimplifiziert und ein typischer ökologischer Fehlschluss auf der Basis einer Überinterpretation aggregierter Daten ist, dem auch der Supreme Court aufgesessen sein könnte. Aus der Wahlforschung ist etwa bekannt, dass aus der Tatsache, dass die Demokraten typischerweise verhältnismäßig viele Wählerstimmen in hauptsächlich von Afroamerikanern bewohnten Gegenden gewinnen, nicht geschlossen werden sollte, dass Schwarze demokratisch wählen. Vielmehr gibt es deutliche empirische Hinweise darauf, dass auch Weiße in Wohnvierteln mit afroamerikanischer Mehrheit eher demokratisch wählen als dies Weiße in „weißen“ Stadtteilen tun (King 1997: 8-34). Der Grund dafür könnte beispielsweise sein, dass das Wahlverhalten weniger von der Hautfarbe als von den sozioökonomischen Bedingungen abhängt. Analog dazu ist ein anderes typisches Beispiel für einen falschen Rückschluss aus räumlichen Gegebenheiten auf individuelles Wahlverhalten ist die bekannte Korrelation von Wahlerfolgen der NSDAP in den 1930er Jahren mit der in den jeweiligen Wahlkreisen herrschenden hohen Arbeitslosenquote. Wie man aus Untersuchungen mit anderen Datenquellen weiß, ist die Folgerung, Arbeitslose hätten überproportional rechtsextrem gewählt (und würden das auch heute tun), falsch: Die Wahlerfolge der NSDAP wurden wohl vor allem Angehörigen des kleinbürgerlichen Milieus getragen, die noch beschäftigt waren, aber zunehmend Angst um ihren Arbeitsplatz und ihr Auskommen hatten; tatsächlich Arbeitslose tendierten sehr viel stärker zum anderen Extrem des politischen Spektrums und wählten eher KPD (Falter 1985). 

(4) Was die grundsätzliche Frage der verfassungsrechtlichen Kompetenzen und politisch-administrativen Regeln zur Besetzung höchster Staatsämter, insbesondere der Verfassungsgerichtsbarkeit, angeht, gibt es, wie der Fall der Neubesetzung vakanter Supreme Court-Richterstellen unter Donald Trump zeigt, den grundsätzlichen Verdacht, jene Zuständigkeiten und Prozeduren würden dafür genutzt, langfristig ideologische Weichenstellungen vorzunehmen und so die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben und insbesondere das Verfassungsgericht parteipolitisch zu instrumentalisieren. Obwohl dieses Argument zweifellos alles andere als aus der Luft gegriffen ist, gibt das jüngste Urteil des höchsten Gerichts der USA zumindest ein Quäntchen Hoffnung, dass mit der formalen Unabhängigkeit und dem Nimbus des Amtes auch ein gewisses, ihm angemessenes Ethos und Verantwortungsbewusstsein verbunden sein könnte.  

   

Literatur/Links

Falter, Jürgen W. (1985): Hat Arbeitslosigkeit tatsächlich den Aufstieg des Nationalsozialismus bewirkt? Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 200 (2): 121-136 

King, Gary (1997): A Solution to the Ecological Inference Problem. Reconstructing Individual Behavior from Aggregate Data. Princeton: Princeton University Press.

Rotte, Ralph/Steininger, Martin (2009): Crime, Unemployment and Xenophobia? An Ecological Analysis of Right-Wing Election Results in Hamburg, 1986-2005. Review of Regional Research/Jahrbuch für Regionalwissenschaft 29 (1), 2009: 29-63; https://docs.iza.org/dp3779.pdf .