Der Ukraine-Friedensplan: China verfolgt seine eigenen Ziele

Am 24. Februar hat die chinesische Regierung ihren groß angekündigten Plan für eine Beendigung des Ukraine-Krieges vorgelegt. Er umfasst zwölf Punkte:

1. Respektierung der Souveränität aller Länder

2. Abkehr von der Mentalität des Kalten Krieges

3. Einstellung der Feindseligkeiten

4. Wiederaufnahme der Friedensgespräche

5. Beilegung der humanitären Krise

6. Schutz von Zivilisten und Kriegsgefangenen

7. Sicherheit der Kernkraftwerke

8. Verringerung der strategischen Risiken (also einer nuklearen Eskalation)

9. Erleichterung der Getreideexporte

10. Beendigung einseitiger Sanktionen

11. Stabilisierung von Industrie- und Versorgungsketten

12. Förderung des Wiederaufbaus nach dem Konflikt.

Der Plan wurde im Westen skeptisch bis ablehnend aufgenommen, während die russische Seite die Bedingungen für eine Aufnahme von Verhandlungen, nämlich die Anerkennung der neuen territorialen Gegebenheiten mit den russischen Annexionen, nicht gegeben sieht und sich die ukrainische Seite zumindest zu Gesprächen mit Beijing bereiterklärte. Der Plan hat entsprechend in absehbarer Zeit wohl kaum große Aussicht auf Erfolg; er ist aber ein interessanter Hinweis auf die chinesische Position in dem Konflikt, in dem die Führung der Volksrepublik die russische Aggression bislang nie offiziell verurteilt und die Partnerschaft mit Russland unterstreicht.

Tatsächlich ist das Dokument zum einen ein Musterbeispiel für diplomatische Unverfänglichkeit, weil die genannten Prinzipien entweder diplomatische Allgemeinplätze sind oder bei Bedarf in verschiedene Richtungen interpretiert werden können, nachdem keine Akteure direkt angesprochen oder Verantwortliche benannt werden. Zum anderen beinhaltet sein Subtext Spitzen sowohl gegen den Westen als auch gegen Russland. So sind die Punkte 1, 6, 7 und 8 offenbar eine implizite Kritik an Russland, was dessen territoriale Ambitionen (zumindest dann, wenn mit „Souveränität“ nicht nur die Existenz, sondern auch die territoriale Integrität der Ukraine auf dem Stand von vor 2014 oder 2022 gemeint ist), die völkerrechtswidrige Art der Kriegführung oder das nukleare Säbelrasseln angeht. Die Punkte 2 und 10 sowie 11 richten sich demgegenüber vor allem gegen die Wirtschaftssanktionen und Waffenlieferungen des Westens und hier vor allem gegen die Haltung der USA, welche ja sowohl gegen Moskau als auch nicht zuletzt gegen Beijing eine zunehmend konfrontative Haltung einnehmen.

Die Volksrepublik China macht mit dem „Friedensplan“ damit klar, dass sie vordringlich ihre eigenen außen- und sicherheitspolitischen Ziele verfolgt. Dies beinhaltet vor allem folgende Aspekte:

Erstens legt sich die chinesische Führung nicht auf eine Konfliktseite fest, sondern bewahrt ihre Unabhängigkeit. Sie führt Russland deutlich vor Augen, dass es in den bilateralen Beziehungen der beiden Staaten mittlerweile der Juniorpartner ist, der von der Kooperation Chinas ungleich abhängiger ist als umgekehrt. Zugleich schlägt sie sich nicht auf die Seite des Westens, nachdem die Vereinigten Staaten als größte Gefährdung chinesischer Ambitionen in einer multipolaren oder teilsinisierten Welt gesehen werden. Die Volksrepublik nimmt also für sich in Anspruch, ein den USA gleichwertiger global player zu sein.

Zweitens versucht sie, sich insbesondere im Globalen Süden als Friedensmacht und „ehrlicher Makler“ zu präsentieren, um sich im diplomatischen und ideologischen Wettbewerb mit den USA als antiimperialistische Alternative zum Westen zu profilieren – ein Ansatz, der China im Übrigen früher oder später auch in Opposition zu einem allzu forschen Ausbau des russischen Einflusses im bislang französisch dominierten Sahelraum bringen dürfte. 

Drittens ist die chinesische Führung offenbar bestrebt, potenzielle Schwachpunkte in der westlichen Allianz auszuloten und gegebenenfalls auszunutzen. Nicht umsonst besuchte der ehemalige chinesische Außenminister und jetzige Direktor des Büros der Zentralen Kommission für auswärtige Angelegenheiten, Wang Yi, im Kontext der Friedensinitiative die europäischen Hauptstädte Paris, Berlin, Rom und Budapest, also Regierungen, von denen traditionell wohl eine größere Offenheit für eine Verhandlungslösung mit Russland erwartet werden kann als etwa von denjenigen der USA, des UK, Polens oder der baltischen Staaten. Wenn es gelänge, die antirussische Koalition zu sprengen, wäre dies aus chinesischer Perspektive wohl weniger eine Schwächung der Ukraine oder Stärkung Russlands als vielmehr eine Schwächung des Westens insgesamt und damit auch der USA und ihrer Möglichkeiten, Chinas globalen Aufstieg zu bremsen oder gar zu verhindern.      

Mit ihrer diplomatischen Initiative zum Ukrainekrieg hält sich China damit letztlich alle Optionen offen, einschließlich der bislang offiziell ausgeschlossenen Möglichkeit, Russland doch noch militärisch zu unterstützen, sollte der Stellvertreterkrieg in der Ukraine zuungunsten Russlands auszugehen drohen. Denn China befindet sich im globalen Konkurrenzkampf mit den USA letztlich in einer zu Washington analogen strategischen Situation: Um den Gegner (die USA) zumindest ansatzweise (wirtschaftlich) zu beeinträchtigen und ihn davon abzuhalten, sich voll auf den Indopazifik und eine Eindämmung Chinas zu konzentrieren, erscheint es durchaus sinnvoll, den Krieg am Laufen zu halten, sollte seine Beendigung nicht ohne nachhaltige weltpolitische Schwächung Russlands oder eine Spaltung des Westens möglich sein. In diesem Sinn ist der „Friedensplan“ für die Ukraine vor allem ein Hinweis auf den sich verschärfenden „Kalten Krieg 2.0“, der weit über den aktuellen Krieg hinausweist.