Deutsche Ängste und russische Befürchtungen im Ukraine-Krieg

Bekanntlich sieht sich die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland gegenwärtig ernsten Schwierigkeiten gegenüber, die vor allem mit den unzureichenden Lieferungen von Waffen und Munition von Seiten des Westens zu tun haben, nachdem sich die Europäer bislang nicht in der Lage gezeigt haben, ihre Rüstungsproduktion schnell und deutlich zu erhöhen und die Hilfsleistungen der USA von wahltaktischen Spielchen der Republikaner im Kongress blockiert werden. Gleichwohl ist keine der beiden Seiten geschlagen, und trotz der erlittenen Verluste und hohen Kosten des Krieges geht dieser weiter. Die generelle Situation gestaltet sich dergestalt, dass ein kurzfristiger Vorteil der russischen Seite wegen schnellerer Umstellung auf Kriegswirtschaft und Möglichkeit des Rückgriffs auf Lagerbeständen aus Sowjetzeiten und ungenutzten Rüstungsproduktionskapazitäten besteht,. Diese müssen im Westen erst wieder aufgebaut werden, dürften aber – vorausgesetzt, es gibt den politischen Willen dazu – mittel- und langfristig, also ab etwa 2025 oder 2026, die russische Produktion überholen und damit der Ukraine ausreichend Mittel zum erfolgreichen Durchhalten geben. Relativiert werden diese Aussichten zum einen durch die offensichtliche Uneinigkeit und Zögerlichkeit des Westens und zum anderen durch die im Zeitverlauf abnehmende Qualität des russischen Materials, welches zum größten Teil eben nicht neu produziert, sondern reaktiviert wird, und die verschwenderische Art der russischen Kriegführung. 

Das zeitliche Fenster russischer Überlegenheit, zusammen mit der innenpolitischen Notwendigkeit, militärische Erfolge vorzuweisen, um die anstehende Wiederwahl Vladimir Putins als Präsident abzusichern und den andauernden Krieg gegenüber der Bevölkerung weiter zu legitimieren, erklärt, warum die russischen Streitkräfte gegenwärtig mit ihren Offensiven „all in“ gehen. Eventuell schließt das auch eine Ausweitung des Krieges nach Transnistrien ein, um ukrainische Kräfte zusätzlich im Westen des Landes zu binden. Aus Sicht der russischen Führung gilt es, dieses Jahr zu nutzen, um möglichst große territoriale Gewinne in der Ukraine zu realisieren, in der Hoffnung, dass sich die drohende materielle Ebenbürtigkeit oder gar Überlegenheit der Ukraine ab 2025 nicht realisiert, sei es, weil der ukrainische Widerstand heuer doch noch gebrochen wird, sei es, weil sich die Produktions- und Liefersteigerung durch den Westen nicht materialisiert, weil die Präsidentschaftswahlen in den USA den Putin-Freund Donald Trump wieder an die Macht bringen oder die Europäer bei der Realisierung der „Zeitenwende“ weiter inkonsequent bleiben, auch wenn gegenwärtig offiziell die „Munitionsmaschine ans Laufen kommt“

In dieser Situation wird wieder einmal klar, wie wenig genuines strategisches Denken in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik präsent ist. Während die nord- und osteuropäischen NATO-Partner sich ohne Wenn und Aber hinter die Ukraine stellen, um deren rüstungstechnische Durststrecke im laufenden Jahr zu überbrücken, und Präsident Macron mittlerweile durch seine Äußerungen - auch gegen Kritik von links und rechts - ebenfalls versucht, die Entschlossenheit der Europäer bei der Bekämpfung der russischen Aggression zu unterstreichen und der russischen Führung ein Maximum an strategischer Ambiguität zu demonstrieren, damit sie sich trotz allem bezüglich der europäischen Schwächen nicht in Sicherheit wiegen kann, herrschen zumindest beim Bundeskanzler und seiner Partei primär Ängste vor einer Eskalation durch die mögliche Lieferung deutscher Marschflugkörper vor. Diese Ängste, die zweifellos von einem erheblichen Teil der deutschen Bevölkerung geteilt werden, werden durch die russophilen Kreise in der deutschen politischen Landschaft, notabene auf der extrem rechten und linken Seite (AfD, BSW, Linke), fleißig geschürt und von der russischen Propaganda und Desinformationsmaschinerie weidlich ausgeschlachtet und bestärkt. Ganz offensichtlich dienen die Veröffentlichung der abgehörten Luftwaffendiskussion, die Auftritte Dimitri Medwedews oder Sergej Lawrows neben der Mobilisierung der öffentlichen Meinung in Russland durch die üblichen Geschichtsnarrative nicht zuletzt der Beeinflussung der deutschen Bevölkerung und ihrer Repräsentanten. Auf diese Weise gelingt es offenbar, die Einheitlichkeit der westlichen Position zum Ukraine-Krieg weiter zu untergraben und die Bundesrepublik als ökonomisch stärksten Akteur in der EU zu verunsichern und von einer konsequenten Unterstützung der Ukraine abzuhalten.  

Was die gegenwärtige Diskussion damit demonstriert, ist, dass Teile der Regierungsparteien und der Öffentlichkeit offenbar noch immer nicht den Ernst der russischen Bedrohung verstanden haben und davon überzeugt sind, die Ukraine ließe sich durch möglichst vorsichtiges und risikofreies Agieren soweit unterstützen, dass sie die Aggression irgendwie übersteht, ohne die russische Führung nachhaltig zu verärgern. Ungeachtet der kontraproduktiven Konsequenzen für das westliche Bündnis scheinen hier die Hoffnung auf eine irgendwie geartete Verhandlungslösung und innenpolitische Erwägungen einer erhofften populären gesinnungsethischen Friedensorientierung die Hauptantriebskräfte zu sein – und die Angst vor einer Eskalation des Krieges zu Lasten Deutschlands, wie immer diese auch aussehen würde.    

Dabei wird aber leicht übersehen, dass auch auf russischer Seite anscheinend große Befürchtungen bestehen, was eine Lieferung der Taurus-Cruise Missiles tatsächlich bedeuten könnte. Man soll sich zwar bekanntlich davor hüten, einzelne Waffensysteme als militärischen Stein der Weisen anzusehen – übrigens ebenso wie davor, die Findigkeit erfahrener und motivierter Soldaten hinsichtlich der Bedienung auch der neuesten Waffen zu unterschätzen –, doch im Fall der deutschen Marschflugkörper gibt es offenbar die Angst, mit diesen Waffen könnte es den Ukrainern tatsächlich gelingen, die für die Versorgung der Krim und der russischen Truppen in der Südukraine essenzielle Kertsch-Brücke zu zerstören. Zusammen mit einer verstärkten artilleristischen Einwirkung auf die (Bahn-) Verbindungen der Landbrücke zwischen der Krim und Russland in den Südukraine entlang des Asowschen Meeres würde dies faktisch eine Isolation der russischen Kräfte auf der Krim und in der Südukraine bedeuten – und damit praktisch die Niederlage Russlands in diesem Krieg. Aus russischer Sicht ist damit unbedingt zu verhindern, dass die Ukraine die Mittel zur Zerstörung der Brücke in die Hand bekommt. Dies geschieht offenbar durch die mittlerweile wohlbekannten, auch nuklearen Eskalationsdrohungen, die im deutschen Kontext anscheinend recht gut verfangen.        

Dazu passt letztlich aber auch das militärische Agieren der Russen in der Ukraine. Denn gegenwärtig fokussiert sich die russische Offensive auf die Ostukraine und strebt offenbar vor allem im Donbass Geländegewinne an, selbst wenn dies nur unter sehr hohen Verlusten realisierbar ist. Stellt sich dann nächstes Jahr heraus, dass die Ukraine aufgeben muss, weil die Unterstützung durch den Westen unzureichend bleibt oder gar versiegt, werden diese Opfer unter dem Eindruck des Sieges in Russland nicht hinterfragt werden; greift demgegenüber die westliche Hilfe so weit, dass die Ukraine nachhaltig gestärkt wird und nicht mehr zu schlagen ist, kann Vladimir Putin im Sinne einer „second-best-Lösung“ mit der Eroberung des größten Teils des offiziell ja bereits annektierten Donbass zumindest gegenüber dem einheimischen Auditorium ebenfalls einen Erfolg vermelden und Verhandlungen anbieten, um den Konflikt einzufrieren. Immerhin kann er dann ja neben der nuklearen Drohung auch auf die negativen Erfahrungen der Ukrainer mit russischen Abwehrstellungen während der gescheiterten Gegenoffensive von 2023 verweisen. Angesichts der Gefahr eines sich weiter dahinschleppenden Abnutzungskrieges könnten sowohl die westlichen Demokratien als auch mindestens Teile der ukrainischen Öffentlichkeit und politischen Eliten geneigt sein, sich auf solche Verhandlungen einzulassen, um das Blutvergießen endlich zu beenden. 

Dieses rationale Kalkül geht nur dann nicht auf, wenn es der Ukraine gelingt, einen tatsächlich entscheidenden Erfolg zu erzielen, der in der gegenwärtigen Lage wohl nur im indirekten Einwirken, also durch die Unterbrechung der russischen Kommunikations- und Versorgungslinien an der Achillesferse der russischen Logistik, der Kertsch-Brücke, möglich ist. In einem solchen Fall wären die militärischen Reaktionsmöglichkeiten der russischen Führung wohl faktisch sehr begrenzt, vor allem dann, wenn die Ukraine sich darauf beschränken würde, die Truppen auf der Krim auszuhungern, anstatt zu versuchen, die Halbinsel direkt wiederzubesetzen. Für eine effektive Generalmobilmachung würden Russland dann wohl die materiellen Ressourcen und der politische Wille bzw. die innenpolitische Legitimation fehlen; eine nukleare Reaktion würde Russland von seinem wirtschaftlich essentiellen Partner China und von vielen Staaten des Globalen Südens entfremden, abgesehen von den auch für Russland selbst bedrohlichen Eskalationsrisiken. Geht man davon aus, dass das Hauptziel Vladimir Putins und seiner Entourage neben der Durchsetzung einer antiwestlichen Weltordnung vor allem der Regimeerhalt ist, müsste der Kreml wohl praktisch von seiner Aggression ablassen und einen innenpolitisch gesichtswahrenden diplomatischen Ausweg aus der Niederlage suchen.

Vor dem Hintergrund der wahrscheinlichen Motivationslage des russischen Präsidenten stellt sich somit für den Westen und damit auch für Deutschland schon aus reinem sicherheitspolitischen Eigeninteresse die schwierige Aufgabe, nicht nur ein Durchhalten der Ukraine zu gewährleisten und auf eine irgendwie vom Himmel fallende Friedenslösung zu hoffen, sondern Russland tatsächlich eine klare militärische Niederlage zu bereiten - und auf die Ukraine einzuwirken, von einer allzu überschwänglichen Ausnutzung dieser Niederlage abzusehen. Aus strategischer Perspektive erscheint es daher logisch, der Ukraine die entsprechenden Waffensysteme tatsächlich möglichst schnell zur Verfügung zu stellen. Was dem russischen Kalkül zur Zeit noch Auftrieb verleiht, sind in erster Linie die ideologische Engstirnigkeit der US-Republikaner und die strategische Kurzsichtigkeit einiger Europäer, nicht zuletzt in Form deutscher Ängste.