Yom Kippur 2.0

Heute haben die von der Hamas geführten palästinensischen Milizen Israel massiv aus der Luft und sogar zu Lande mit Kampfgruppen auf israelischem Territorium angegriffen, just während der hohen jüdischen Feiertagswoche des Laubhüttenfests (Sukkot). Und die israelischen Streit- und Sicherheitskräfte scheinen zumindest vom Umfang der Offensive völlig überrascht worden zu sein. Dies erinnert an den Oktoberkrieg von 1973, als es Ägypten und Syrien gelang, die nach dem Sechs-Tage-Krieg allzu selbstsicheren IDF ebenfalls auf dem falschen Fuß zu erwischen und zu einem tage- und wochenlangen verlustreichen Abwehrkampf zwang, der trotz der resultierenden Niederlage der Angreifer in den Augen der arabisch-muslimischen die Ehre der arabischen Streitkräfte (und Gesellschaften) nach dem Debakel von 1967 wiederherstellte.

Wahrscheinlich war es diesmal weniger eine grundsätzliche Arroganz des israelischen Militärs gegenüber den arabischen Gegnern – für Geringschätzung war nach den großen Auseinandersetzungen mit der Hamas (2008, 2012, 2014, 2021) und der Hisbollah (2006) wohl kein Anlass. Vielmehr waren die IDF wohl vor allem aufgrund der anhaltenden innenpolitischen Spannungen in Israel, mit dem Konflikt um die angestrebte Schwächung der richterlichen Aufsicht der Regierung durch die regierende rechtsreligiöse Koalition Benjamin Netanjahus, gegen die es seit Monaten massive Proteste und eine umfassende Auseinandersetzung vor dem Obersten Gericht Israels gibt. Dies hat dazu geführt, dass sich die Spaltung der israelischen Gesellschaft noch massiv vertieft hat, nicht zuletzt durch das Verhalten der religiösen Rechten, der Siedler und der Ultraorthodoxen, welche eine militante, fundamentalistische Geringschätzung liberal-demokratischer, säkularer Normen , anderer Religionen und der Rechte der arabischen Minderheit in Israel und der Palästinenser in den besetzten Gebieten an den Tag legen. Dieser Kulturkampf oder gar „Heilige Krieg um das Judentum“, der letztlich das Wesen des israelischen Staates und den offensichtlichen Widerspruch zwischen seinem religiösen (jüdischen) und demokratisch-rechtsstaatlichen Charakter betrifft, hat wohl nicht zuletzt dazu beigetragen, die Abwehrbereitschaft Israels, etwa durch die Dienstverweigerung einer ganzen Anzahl von Reservisten, zu unterminieren. Auch die Moral der Truppe dürfte durch die innenpolitischen Auseinandersetzungen, welche auch die Ausnahme der Ultraorthodoxen vom Wehrdienst betrifft, gelitten haben – letztlich lassen sich diese von den Angehörigen der Gesellschaft schützen und verteidigen, die sie für ihren eher liberalen Lebensstil letztlich verachten, und werden aufgrund ihrer (weitgehend selbstgewählten) sozioökonomischen Lage außerdem vom Staat finanziell unterstützt

Ergänzt wird diese Situation, die von der Hamas nun ausgenutzt wird, durch die in den letzten Monaten zunehmenden Attentate und terroristischer Gewalttaten vor allem im Westjordanland, sowie die laufenden Verhandlungen zwischen Israel und Saudi-Arabien um eine Normalisierung ihrer Beziehungen, nicht zuletzt angesichts des gemeinsamen regionalen Gegners Iran und der nuklearen und wirtschaftlichen Ambitionen der Saudis, für die eine Kooperation mit Israel sinnvoll bzw. notwendig erscheint; auch die Aussicht auf US-amerikanische Waffenlieferungen stellt für die Saudis einen wichtigen Anreiz für einen Frieden mit Israel dar. 

Beides hat dazu geführt, dass die Gefahr gesehen wird, das Los der Palästinenser in den besetzten Gebieten und im Gaza-Streifen könnte in Vergessenheit geraten oder auf dem Altar machtpolitischer Interessen geopfert werden – was natürlich faktisch seit jeher der Fall ist, nachdem die Palästinenser seit langem von den arabischen Regierungen eher als propagandistisch-diplomatischer Spielball betrachtet werden, den man bei Bedarf nutzen kann, um den man sich aber ansonsten jenseits von Rhetorik kaum kümmert. In gewisser Weise ist der aktuelle Angriff auf Israel damit auch ein Ausdruck einer zunehmend radikalisierten und instrumentalisierten Hoffnungslosigkeit der Palästinenser, auch angesichts von Vorstellungen extremistischer Israelis, die Westbank solle von Israel annektiert werden. Zudem ist er ein Warnschuss an die saudische Führung, die Annäherung an Israel nicht zu weit zu treiben und stellt die saudische Verhandlungsposition vor deutliche Probleme.

Unter diesen Umständen stehen die Zeichen im Nahen Osten auf Eskalation. Israel kann angesichts seiner strategischen Konzeption der „kumulativen Abschreckung“ gar nicht umhin, jetzt massiv zurückzuschlagen und die Hamas auch direkt im Gaza-Streifen mit voller Wucht anzugreifen. In dieser Konstellation der vermeintlich relativen Schwäche und der öffentlichkeitswirksamen Anfangserfolge der Hamas ist zu befürchten, dass neben anderen Terrorgruppen wie dem Islamischen Dschihad auch die Hisbollah vom Libanon und von Syrien in die Offensive einsteigen wird bzw. allein aus Glaubwürdigkeitserwägungen heraus sogar dazu gezwungen ist. Wie sich dann der Iran als Hauptunterstützer der Hisbollah verhalten wird und ob sich etwa auch die in Syrien befindlichen iranischen Revolutionsgarden (vielleicht inoffiziell) in die Kämpfe einmischen werden, bleibt eine Unwägbarkeit. Die Gefahr eines großen Krieges ist zweifellos real. 

Ironischerweise kommt der jetzt begonnene Krieg dem unter Druck stehenden Premierminister wohl nicht ungelegen, ermöglicht er doch einen gewissen, bereits sichtbaren „rally-round-the-flag“-Effekt der Israelis und eine zumindest temporäre Ablenkung von den demokratiepolitischen und ideologischen Kämpfen in der israelischen Gesellschaft.