Zwiespältige Aussichten im Ukraine-Krieg

In den letzten Tagen und Wochen mehren sich die widersprüchlichen Stimmen über den zu erwartenden weiteren Verlauf des russisch-ukrainischen Krieges. Auf der einen Seite stehen teilweise sehr optimistische Militär- und Politikanalysten, die davon ausgehen, dass die Ukraine bis Ende August die Krim befreien könnte, wenn der Westen weitreichende Artilleriesysteme und Kampfflugzeuge liefert, oder dass der russischen Armee bei den bisherigen Verlustraten bis Oktober das schwere Gerät ausgehen dürfte. Die bislang wenig erfolgreiche Performanz der russischen Streitkräfte wird mit deren strukturellen Motivations- und Führungsproblemen begründet und ebenso auf einen sich allmählich wieder einstellenden Personalmangel bei der Infanterie hingewiesen, nachdem die Masse der 300.000 zusätzlichen Mobilisierten bereits zu einem großen Teil außer Gefecht gesetzt worden ist. 

Das CSIS schätzt die bisherigen russischen Verluste auf 60.000 bis 70.000 Gefallene und Vermisste; geht man nach der üblichen Faustregel davon aus, dass auf jeden Toten drei Verwundete kommen, gäbe zusätzlich um die 200.000 weitere Ausfälle. Selbst wenn man von einem gewissen Anteil an Rekonvaleszenten und Frontrückkehrern ausgeht, erscheint eine Zahl von etwa 200.000 Mann an russischen Verlusten durchaus realistisch. Dass die russische Führung wahrscheinlich aus innenpolitischen Gründen und aufgrund von Problemen einer realistischen Rückmeldung des Kriegsverlauf zwischen Militär und Kreml bislang auf eine neue offizielle Mobilisierungswelle verzichtet hat und stattdessen auf die Wagner PMC sowie die (unrealistische) Gewinnung neuer Freiwilliger zählt, dürfte demnach zu massiven Personalproblemen russischerseits führen. 

Auf der anderen Seite wird darauf hingewiesen, dass der beiderseitige Abnutzungskrieg, v.a. unter Einsatz von Artillerie und Infanterie, auch für die Ukraine hohe Verluste nach sich gezogen hat, auch wenn sie aufgrund ihrer konsequenteren Mobilmachung nicht über ähnliche Personalprobleme klagen muss wie die russische Seite. Gleichwohl bleibt die westliche Unterstützung für die Ukraine essentiell; bislang erfolgte diese aus Furcht vor einer weiteren Eskalation des Konflikts aber nicht in einem Ausmaß, das es der Ukraine erlauben würde, entscheidende Gegenoffensiven zu führen. Die jüngsten Leaks verteidigungspolitischer Dokumente aus den USA – so sie echt sind – zeigen außerdem Probleme bei der Munitionsversorgung der ukrainischen Luftabwehr und bei der Beschaffung von NATO-kompatibler Artilleriemunition beim derzeit größten Produzenten, Südkorea. 

Was folgt daraus für den weiteren Kriegsverlauf? Beide Seiten sehen sich zweifellos ernsten Problemen gegenüber, was die Personal- und die Materiallage angeht, können aber zugleich darauf hoffen, siegreich oder zumindest (innenpolitisch) gesichtswahrend aus dem Konflikt hervorzugehen. Die ukrainische Führung wird auf entscheidende Offensivstöße im Sommer rechnen, um die Krim vom russischen Festland abzuschneiden und die Russen zum Rückzug aus der Ostukraine zu bewegen. Dafür ist allerdings eine ungebrochene weitere und qualitativ wie quantitativ ausgebaute Unterstützung durch den Westen notwendig. 

Gerade deshalb kann sich aber auch der Kreml immer noch Chancen auf einen Erfolg ausrechnen, nämlich dann, wenn es gelingt, die ukrainische Infrastruktur (und damit zumindest Teile der Logistik) weiter zu zerstören, die erwartete ukrainische Offensive in den neu ausgebauten Stellungssystemen im Osten und Süden zu stoppen und die westlichen Gesellschaften davon zu überzeugen, die militärische Unterstützung der Ukraine zugunsten einer Verhandlungslösung (auf Kosten der territorialen Integrität der Ukraine) einzuschränken.

Dass die russische Führung möglicherweise neue Brüche in der westlichen Allianz ausmachen könnte, wäre etwa angesichts des jüngsten Besuchs Emmanuel Macrons und Ursula von der Leyens in Beijing durchaus naheliegend, hat sich der französische Präsident doch recht klar für eine größere Distanz der Europäer von den Vereinigten Staaten ausgesprochen (und damit vor allem osteuropäischen, aber wohl auch deutschen Perspektiven auf die NATO widersprochen), und die deutliche protokollarische Zurücksetzung der Präsidentin der Europäischen Kommission durch die chinesischen Gastgeber zeigt, dass ein Ansatz des divide et impera, wie es die Volksrepublik international betreibt, bei den Europäern durchaus funktionieren könnte.     

   

Literatur/Links

Gady, Franz-Stefan/Kofman, Michael (2023): Ukraine’s Strategy of Attrition. Survival 65 (2): 7-22, https://www.tandfonline.com/doi/epdf/10.1080/00396338.2023.2193092?needAccess=true&role=button .

Jones, Seth G./McCabe, Riley/Palmer, Alexander (2023): Unkrainian Innovation in a War of Attrition. CSIS Briefs, February 2023, https://www.csis.org/analysis/ukrainian-innovation-war-attrition .