Das "Ludendorff-Dilemma" der Ukraine

Bei der anscheinend nun angelaufenen, seit langen erwarteten Gegenoffensive der Ukraine gegen die russischen Invasoren des Landes stehen die ukrainischen Streitkräfte von einem strategischen Dilemma, das sich vereinfacht folgendermaßen formulieren lässt: Wie kann man mit einer temporären qualitativen und (zumindest an den ausgewählten Angriffsräumen) wohl auch quantitativen Überlegenheit einen entscheidenden Erfolg gegen einen Gegner erringen, der auf Zeit, Abnutzung und das schließliche Übergewicht seines größeren demographischen und wirtschaftlichen Potenzials setzt und zumindest dessen Führung grimmig entschlossen ist, das bislang errungene Territorium um jeden Preis zu halten; und das Ganze vor dem Hintergrund eines massiven Erfolgsdrucks, um die existentiell wichtigen materiellen Unterstützer mittel- bis langfristig bei der Stange und den Kampfgeist der eigenen Bevölkerung und Armee aufrecht zu erhalten? Denn nicht zuletzt der massive Ausbau russischer Verteidigungsstellungen insbesondere im Süden der besetzten Ukraine, der in den letzten Wochen intensivierte Beschuss ukrainischer Städte ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung und die umfangreiche Informationskriegführung des Kreml nach innen und nach außen zeigen, dass eine Verhandlungsbereitschaft russischerseits zu für die Ukraine akzeptablen Bedingungen in weiter Ferne liegt und wohl nur durch entscheidende Erfolge auf dem Schlachtfeld wahrscheinlicher – wenngleich alles andere als sicher – werden wird.

Gleichzeitig steigen die Unwägbarkeiten und Risiken einer dauerhaften wirtschaftlichen, finanziellen und vor allem militärischen Unterstützung durch den Westen, etwa angesichts (1) einer durchaus nicht auszuschließenden Wiederwahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im November 2024, (2) der Stärkung russlandfreundlicher oder gar –höriger Parteien in Westeuropa – z.B. in Form des weiteren Aufstiegs des Rassemblement National in Frankreich, dessen langjährige Galionsfigur Marine Le Pen laut aktuellen Umfragen die Stichwahl für das Staatspräsidentenamt gegen Emmanuel Macron heute gewinnen würde (die nächste Präsidialwahl findet 2027 statt), oder der wachsenden Attraktivität der AfD in Deutschland, die gegenwärtig in Umfragen bei 18 bis 19 Prozent steht (die Linke stabilisiert sich danach immerhin soweit, dass sie wieder in den Bundestag einziehen könnte), oder (3) des ukrainekritischen Widerstands vor allem landwirtschaftlicher Lobbygruppen in Osteuropa gegen ukrainische Getreideexporte, wie er im diesbezüglichen jüngsten Importverbot Polens, Ungarns, der Slowakei, Bulgariens und Rumänien sichtbar wird. 

Zugleich sind die ukrainischen Streitkräfte für die Offensive zwar nicht schlecht ausgestattet, etwa mit modernen westlichen Artilleriesystemen, Kampfpanzern und IFVs (infantry fighting vehicles), doch deren Zahl ist deutlich begrenzt, und entsprechend auch diejenige der eigens für Offensivoperationen ausgerüsteten und ausgebildeten Einheiten. Je nach Quelle ist die Rede von acht bis zwölf neuen Angriffsbrigaden mit rund 40.000 Mann, welche die Speerspitze des ukrainischen Heeres bilden sollen. Es liegt auf der Hand, dass der Einsatz dieser knappen und entsprechend wertvollen Verbände wohlüberlegt sein muss; ihr Verlust ohne entsprechende militärische Erfolge würde auf absehbare alle weiteren Möglichkeiten einer neuerlichen Großoffensive ausschließen, im Westen die Forderungen nach einem Waffenstillstand mit ukrainischen Zugeständnissen lauter werden lassen und die innenpolitische Position und Siegeszuversicht der russischen Führung, die dabei ist, das Land auf einen langen Krieg vorzubereiten, stärken. Die Ukraine ist also unter Zugzwang, will sie ihre Kriegsziele, nämlich die Befreiung des ganzen Landes, erreichen, hat aber nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung.

Dem kriegsgeschichtlich interessierten Beobachter dürfte dieses strategische Dilemma aus der deutschen Militärhistorie bekannt vorkommen. Es erinnert nämlich augenfällig an die Lage des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg zu Beginn des Jahres 1918: Das Ende des Krieges im Osten (Waffenstillstand mit Russland und Rumänien im Dezember 1917, Friedenschlüsse von Brest-Litowsk und Bukarest im März und Mai 1918) und die temporäre Ausschaltung Italiens (Schlacht von Caporetto, Oktober 1917) versetzten Deutschland in die Lage, die Masse seiner kampfkräftigen Heeresverbände an der Westfront zu konzentrieren und so zum ersten Mal eine quantitative Überlegenheit gegenüber den dortigen französischen, britischen (inkl. Empire), belgischen und portugiesischen Truppen zu erlangen (170 alliierte Divisionen mit knapp 3,6 Mio. Mann gegenüber 191 deutsche Divisionen mit gut 3,6 Mio. Mann Mitte März 1918). Neue Angriffsverfahren („Buntschießen“ der Bruchmüller-Artillerietaktik, Stoßtrupptaktik spezialisierter Sturmtruppen) und speziell ausgebildete Eliteeinheiten (Angriffsdivisionen) gewährleisteten auch eine qualitative Überlegenheit der Deutschen, solange die technischen Innovationen (Tanks) und taktische Adaption (Infanterie- und Artillerietaktik) der Alliierten noch nicht ausreichend wirksam geworden waren. Die alliierte Westfront war nach den bisherigen verlustreichen Fehlschlägen stellenweise relativ dünn besetzt und die Moral der Truppen zumindest fraglich – die britische Regierung war nicht willens oder fähig, der britischen Armee in Frankreich nach den Verlusten der Dritten Flandernschlacht 1917 (engl.: "Battle of Passchendaele" oder "Third Battle of Ypres") die geforderten Reserven zur Verfügung zu stellen, die in Großbritannien gebildet wurden; die französische Armee war noch dabei, sich von den Meutereien des Jahres 1917 zu erholen.

Zugleich war der für die militärischen (inklusive i.w.S, militärpolitischen) Planungen verantwortliche Generalquartiermeister Erich Ludendorff aber mit verschiedenen Faktoren konfrontiert, welche dazu führten, dass die deutsche Überlegenheit nur temporärer Natur sein würde und eine Offensive nur in einem bestimmten Zeitfenster sinnvoll möglich sein würde sowie unbedingt erfolgreich sein musste: 

Erstens befanden sich Anfang 1918 zwar nur wenige US-amerikanische Einheiten in Frankreich im Einsatz; nach Anlaufschwierigkeiten seit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im April 1917 waren die USA jedoch nun dabei ihr Potenzial auszuschöpfen und sandten jeden Monat Hunderttausende Soldaten nach Europa, wo sie ausgebildet und von den Entente-Mächten ausgerüstet wurden. Im März 1918 waren bereits über 320.000 US-Amerikaner in Frankreich (davon vier US-Divisionen mit rund 110.000 Mann im französischen Frontabschnitt), waren in der Masse aber noch nicht fertig trainiert und kampfunerfahren. Es war damit zu rechnen, dass die US-Expeditionsstreitkräfte im Herbst 1918 über zwei Millionen Mann einsatzbereit haben würden, mit einem weiteren Zustrom von über 200.000 Mann jeden Monat. 

Zweitens litt die deutsche Armee unter massiven und wachsenden Versorgungs- und Transportproblemen (Verpflegungs-, Pferde- und Lastwagenmangel) und konnte von einer unter der britischen Blockade leidenden Bevölkerung nicht mehr ausreichend alimentiert werden (außer mit Waffen und Munition), ganz abgesehen davon, dass Hunger und Mangelwirtschaft die Durchhaltefähigkeit der „Heimatfront“ und damit die Moral der Truppen zunehmend untergruben. Die Hoffnung auf eine effektive Gegenblockade des Vereinigten Königreichs durch den uneingeschränkten U-Boot-Krieg hatte sich zerschlagen. Auch die Ersatzlage des Heeres war schlecht; er wurde prognostiziert, dass die "üblichen" Verluste des Stellungskrieges ab September 1918 nicht mehr durch junge Rekruten oder wiedergenesene Verwundete kompensiert werden könnten. 

Drittens standen die Verbündeten Deutschlands, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und Bulgarien, kurz vor dem Zusammenbruch, nicht zuletzt ebenfalls wegen gravierender (vor allem ernährungs-) wirtschaftlicher und innenpolitischer Probleme (im Fall Österreich-Ungarns und Bulgariens auch wegen des scheinbar weitgehenden Erreichens der Kriegsziele). Ihr absehbarer Kollaps würde das ebenfalls schwächer werdende Deutschland allein mit der dank der USA immer stärker werdenden Allianz der Gegner konfrontieren. 

Nachdem die deutsche Führung davon ausging, dass ein Verhandlungsfrieden zum Erhalt der wesentlichen deutschen Kriegsgewinne (territoriale Expansion und Hegemonie in Osteuropa, Kontrolle Belgiens) nicht ohne militärischen Druck auf die Alliierten möglich sein würde, war für Ludendorff die logische Konsequenz, die temporäre deutsche Überlegenheit nicht als Drohkulisse für (aussichtslos erscheinende) diplomatische Initiativen, sondern für eine entscheidende Offensive zu nutzen, um militärisch eine Lösung für das strategische Problem zu erreichen. Dafür standen vor allem 56 speziell aus den besten, in der Stoßtrupp-Taktik ausgebildeten Soldaten bestehende und dem besten Material ausgerüstete Angriffsdivisionen zur Verfügung; der Rest des deutschen Heeres bestand aus „Stellungsdivisionen“ denen in erster Linie nur defensive Fähigkeiten zugesprochen wurde. 

Die Kräfteverhältnisse, logistische (begrenzte Mobilität der deutschen Truppen) und politische Erwägungen (Zusammenhalt des britisch-französischen Bündnisses) führten dazu, dass Ludendorff im Frühjahr 1918 nacheinander eine Reihe von „Hammerschlägen“ gegen verschiedene Stellen der alliierten Front führen wollte, um die gegnerischen Reserven zu binden und zu erschöpfen, bevor im Sommer die entscheidende Offensivoperation gegen die Briten („Operation Hagen“) und/oder die Franzosen (Operation „Kurfürst“) erfolgen sollte. Dieses schrittweise Vorgehen unterscheidet die deutsche Offensive 1918 beispielsweise auch von der alliierten Gegenoffensive der „Hundert Tage“ (August bis November 1918) oder aus dem Zweiten Weltkrieg bekannten Offensiven etwa der Westalliierten oder der Sowjets 1943-1945, bei denen die Überlegenheit gegenüber den Deutschen jeweils so groß war, dass stets an mehreren Stellen oder gleich der ganzen Front gleichzeitig angegriffen werden konnnte.  

Das Resultat waren die deutschen Offensivstöße im März und April 1918 gegen den britischen (Operationen „Michael“ und „Georgette“) sowie im Mai/Juni und Juli 1918 gegen den französischen Frontabschnitt (Operationen „Blücher-Yorck“, „Gneisenau“ und „Marneschutz-Reims“). Die ersten drei dieser „Ludendorff-Offensiven“ waren teilweise beeindruckende und für die Alliierten bedrohlich wirkende taktische Erfolge (v.a. „Michael“ und „Blücher“). Sie brachten jedoch keinen operativen Durchbruch oder entfalteten eine strategische Wirkung, außer dass sie die Alliierten zu einem gemeinsamen Vorgehen zwangen. Bereits die beiden letztgenannten Teiloffensiven waren faktisch kostspielige Fehlschläge, die dazu führten, dass das Ziel der Bindung vor allem der französischen Reserven nicht erreicht und die deutsche Angriffskraft durch hohe Verluste gerade bei den unersetzlichen Angriffsdivisionen erschöpft wurde. „Hagen“ und „Kurfürst“ wurden daraufhin auf unbestimmte Zeit verschoben, und Mitte Juli 1918 ging mit dem französischen Gegenangriff bei Soissons die Initiative endgültig an die Alliierten über, bei denen mehr und mehr US-amerikanische Divisionen zum Einsatz kamen.

Auch wenn die Größenordnungen der Westfront von 1918 nicht auf den Ukraine-Krieg übertragbar sind, sind die Parallelen für die ukrainische Offensivplanung unübersehbar: Auch die Ukraine muss angreifen, um eine Chance auf Realisierung ihrer Kriegsziele und die Sicherstellung der eigenen Kampffähigkeit (Rückhalt in der Bevölkerung, insbesondere aber weiterlaufende Unterstützung in der westlichen Öffentlichkeit und damit durch die westlichen Regierungen) zu haben. Auch die Ukraine sieht sich mit einem begrenzten Zeitfenster für eine erfolgreiche Offensive konfrontiert (politisch wegen der parteipolitisch-ideologischen Konstellationen im Westen, kriegsökonomisch wegen der russischen Reserven, taktisch-operativ wegen der Verstärkung der russischen Verteidigungsstellungen und geographisch wegen der üblicherweise im Herbst einsetzenden Schlammperiode). Und auch die Ukraine kann für die Offensive über einen besonders gut ausgebildeten und ausgerüsteten Teil ihrer Armee verfügen, der zwar den im Augenblick noch ziemlich desorganisiert und demoralisiert wirkenden russischen Truppen qualitativ ebenso überlegen sein dürften wie der Masse der übrigen ukrainischen Streitkräfte (auch wenn diese zweifellos noch recht motiviert sind). Der Umfang dieser Eliteverbände ist jedoch überschaubar, und große Verluste bei den neuen Angriffsbrigaden dürften bei einem Scheitern der Offensive nachhaltigen moralischen, politischen und militärischen Schaden nach sich ziehen. 

Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, mit den aufwändig aufgebauten Reserven vorsichtig umzugehen und sie nicht in einer Alles-oder-nichts-Operation aufs zu Spiel zu setzen. Wie Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie in Wien in einem erst vor einigen Tagen veröffentlichten Video dargelegt hat, wird auch die ukrainische Führung bestrebt sein, durch lokale und regionale Fesselungsangriffe die vorhandenen russischen Reserven vom eigentlichen Schwerpunkt der Offensive abzuziehen und zu binden, voraussichtlich im Osten (wie aktuell um Bachmut), im Südwesten (wo gegenwärtig jedoch die Bewegungen durch die Zerstörung des Kachowka-Staudammes stark beeinträchtig werden) und im Süden, bevor der eigentliche Entscheidungsschlag gegen eine hoffentlich ausgedünnte russische Front, wohl im Südosten (Richtung Mariupol), erfolgt.

Es sieht also so aus, als ob die militärstrategische und operative Logik der ukrainischen Entscheidungsträger heute (ungeachtet offensichtlich fundamentaler politischer, gesellschaftlicher und ideologischer Unterschiede) durchaus deutliche Parallelen zu derjenigen der deutschen Führung im Frühjahr 1918 aufweist. Das deutsche Beispiel zeigt dabei vor allem, wie risikoreich eine politisch hochambitionierte militärische Großoffensive unter solchen Bedingungen sein kann. Es bleibt zu hoffen, dass die ukrainische Frühjahrsoffensive nicht ein ähnliches Schicksal erfährt, sei es, weil die Widerstandskraft der russischen Seite relativ gesehen schwächer ist als diejenige der Alliierten 1918, sei es, weil die Unterstützer der Ukraine materiell wie vom politischen Willen her stärker sind als die deutschen Verbündeten im Ersten Weltkrieg.

Literatur/Links

Zabecki, David T. (2006): The German Offensives 1918. A case study in the operational level of war. London, New York: Routledge.