Clausewitz auf dänisch

In einem Moment, in dem die Öffentlichkeit im Westen zunehmend kriegsmüde wird und die Zweifel an einem ukrainischen Abwehrerfolg gegen die russische Aggression wachsen, in dem angesichts des Verhaltens der Republikaner im US-Kongress und der Äußerungen Donald Trumps zur NATO die Angst vor einem Ende der materiellen Unterstützung der Ukraine, ja des westlichen Bündnisses überhaupt zunehmen, hat die dänische Premierministerin Mette Frederiksen am 17. Februar 2024 ein Zeichen für eine konsequente Weiterführung des Widerstands gegen Russlands Angriffskrieg in der Ukraine gesetzt. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz verkündete sie überraschend, dass Dänemark seine „gesamte Artillerie“ der Ukraine zur Verfügung stellen werde. Nach dem augenblicklichen Stand umfassen die zugesagten Lieferungen neben einem unbekannten Bestand an Munition auch 19 bestellte CAESAR-Radhaubitzen aus französischer Produktion, die nicht wie geplant an das dänische Heer, sondern direkt an die Ukraine gehen sollen. Diese CAESARs sollten ursprünglich die in den 2000er Jahren ausgemusterten Panzerhaubitzen der praktisch aufgegebenen Rohrartillerie ersetzen – wobei es Hinweise darauf gibt, dass das dänische Militär mit dem System ohnehin unzufrieden ist und ein anderes beschaffen will. Ebenfalls auf der Sicherheitskonferenz verlautbarte der Präsident der Tschechischen Petr Pavel, dass das tschechische Verteidigungsministerium und die Industrie noch 800.000 Granaten (500.000 155mm- und 300.000 122mm-Geschosse) „gefunden“, die, eine entsprechende internationale Finanzierung vorausgesetzt, schnell an die Ukraine geliefert werden könnte. 

Diese Verlautbarungen erfolgen in einer Situation, in der die ukrainischen Streitkräfte unter wachsendem Munitionsmangel leiden und langsam von der russischen Seite zurückgedrängt werden, die täglich ein Mehrfaches an Artilleriegeschossen verfeuern kann als die ukrainische. Gegenwärtig sollen es rund 10.000 Schuss pro Tag sein; anvisiert werden von russischen Planern wohl 15.000 Schuss pro Tag, um die Ukraine im Laufe des Jahres 2025 zu besiegen. Das sind zwar etwa 9.000 Granaten, vor allem des Kalibers 152 mm und 122 mm, weniger als die russische Industrie gegenwärtig produziert und deutlich weniger als die bis zu 60.000 Schuss, welche laut Schätzungen des estnischen Verteidigungsministeriums zu Beginn des Krieges täglich eingesetzt worden sein sollen. Es ist Russland jedoch durch massive Investitionen seit 2022 gelungen, die jährliche Produktion an Granaten von etwa 400.000 auf mittlerweile gut zwei Millionen zu steigern. Von einem geschätzten Reservebestand von etwa 20 Millionen Granaten soll die russische Artillerie mittlerweile bis zu 17 Millionen verschossen haben; die Qualität der verbleibenden ist fraglich. Ob die russische Produktion noch weiter ausgebaut werden kann und ob etwa Nordkorea und in geringerem Maß der Iran noch mehr als die bislang ca. zwei Millionen gelieferten Granaten aufbringen können, um den russischen Planbedarf zu decken, ist unsicher; in jedem Fall ist die russische Munitionsversorgung trotz absehbarer Engpässe offenbar bei weitem weniger prekär als die ukrainische. Die ukrainische Artillerie, die Ende 2023 im Rahmen der dann gescheiterten Gegenoffensive dem russischen Einsatz von täglich 10.000 bis 15.000 Granaten Paroli bot, nachdem Südkorea rund eine Million Granaten, die von den USA finanziert wurden, geliefert hatten, muss heute massiv Munition sparen und verliert dadurch an Wirkung gegen die russischen Offensivoperationen. 

Zwar bemüht sich die Ukraine u.a. mit Hilfe US-amerikanischer Firmen um den Aufbau einer eigenen Produktion von 155 mm-Granaten, doch auf absehbare Zeit bleibt das Land völlig abhängig von westlichen Lieferungen, die bislang etwa zwei Millionen Granaten umfassten. Mittlerweile muss die ukrainische Artillerie mit ihren ca. 350 Systemen den Munitionsverbrauch auf 2.000 Schuss pro Tag an der gesamten Front rationieren, während die angreifenden Russen das Feuer ihrer rund 4.000 Geschütze zusätzlich an Schwerpunkten der Front konzentrieren können. Obwohl Drohnen („First Person View Drones“) mittlerweile teilweise als Ersatz für Artillerie dienen können, kann ihre Verwendung bislang die russische Artillerieüberlegenheit bei weitem nicht ausgleichen.   

Zugleich bleiben die versprochenen Munitionslieferungen der Europäer bislang deutlich hinter dem zurück, was zugesagt wurde: Bis März wollte die EU der Ukraine eine Million Artilleriegranaten zur Verfügung stellen; erreicht wird wohl nur gut die Hälfte davon. Zusammen mit den Verzögerungen bei der Bewilligung weiterer US-Lieferungen und beim Ausbau der europäischen Rüstungsproduktion führt dies dazu, dass die Ukraine ihren Bedarf an Artilleriemunition bei weitem nicht mehr decken und entsprechend sparen muss – mit entsprechend resultierenden taktischen und operativen Vorteilen für die russische Armee, wie deren Einnahme von Adiivka zeigt. Obwohl das Produktionspotenzial des Westens zweifellos ungleich größer ist als dasjenige Russlands, reicht die tatsächliche Rüstungsproduktion des ersteren und insbesondere der europäischen Staaten gegenwärtig nicht aus, um den Vorsprung Russlands und seiner Partner aufzuwiegen. Das Resultat des gegenwärtigen materiellen wie psychischen Abnutzungskrieges ist daher offen, was bedeutet, dass Vladimir Putins Spiel auf Zeit in der Hoffnung oder Erwartung eines Einknickens der westlichen Demokratien immer noch aufgehen könnte. 

Zumindest ergibt eine neue Umfrage in 12 west- und mitteleuropäischen Ländern im Auftrag des European Council on Foreign Affairs, dass nurmehr 10 Prozent der europäischen Bürger glauben, dass die Ukraine den Krieg militärisch gewinnen kann, während doppelt so viele davon ausgehen, dass dies auf Russland zutrifft. Sogar in den optimistischsten Staaten (Polen, Schweden und Portugal) geht weniger als ein Fünftel von einem Erfolg der Ukraine aus. Klar über ein Drittel der Befragten denkt, dass der Krieg mit einer Kompromisslösung enden wird; und nur in Schweden, Portugal und Polen gibt es eine relative Mehrheit von knapp 50 Prozent für eine weitere Unterstützung der Ukraine, um ihr die Rückeroberung ihres Territoriums zu ermöglichen. Fast zwei Drittel der Ungarn, etwa drei Fünftel der Griechen und rund die Hälfte der Italiener und Österreicher (und damit jeweils eine deutliche relative Mehrheit) sind dafür, die Ukraine an den Verhandlungstisch zu drängen; in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Spanien ist die Meinung zwischen Unterstützung und Verhandlungen gespalten.       

Mette Frederiksen äußerte sich vor diesem Hintergrund der militärischen, rüstungswirtschaftlichen und Meinungslage dahingehend, dass „"Wenn man die Ukrainer fragt, fragen sie uns jetzt nach Munition, nach Artillerie. Von dänischer Seite haben wir beschlossen, unsere gesamte Artillerie zu spenden. (...) Es gibt noch Munition in europäischen Beständen. Es geht nicht nur um die Produktion, denn wir haben die Waffen, wir haben die Munition, wir haben die Luftabwehr, die wir im Moment nicht selbst einsetzen müssen, die wir der Ukraine liefern sollten.“ Die Europäer sollten mit ihrer Unterstützung der Ukraine auch nicht auf die USA warten. 

Diese Haltung der dänischen Regierung ist nicht neu. Dänemark ist, gemessen an seiner Größe und Wirtschaftsleistung, zusammen mit anderen nordischen Staaten wie Estland, Norwegen und Litauen der größten Unterstützer der Ukraine. Zusammen mit den Niederlanden war es auch der erste Staat, der im Sommer 2023 die Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen an die Ukraine beschlossen hatte, nachdem es sich seit Anfang 2023 intensiv um die Überlassung und Beschaffung von Kampfpanzern für die Ukraine engagiert hat. Auch wenn sich die Auslieferung der F-16 wegen der Ausbildung der Piloten und des Wartungspersonals aus der Ukraine sowie der Bereitstellung der notwendigen Instandhaltungslogistik verzögert, zeigt sich das Ausmaß des dänischen Engagement auch etwa dadurch, dass 2023 ein Feiertag abgeschafft wurde, um die Ausgaben für den Ukraine-Krieg durch höhere Steuereinnahmen zu finanzieren. Ein Ziel der dänischen jüngsten Ankündigung ist es sicher auch, die übrigen europäischen Verbündeten, insbesondere die großen Staaten Deutschland und Frankreich unter Zugzwang zu setzen, sich noch stärker als bisher an Waffenlieferungen für die Ukraine zu beteiligen. 

Doch wie sinnvoll ist die vielleicht extrem anmutende dänische Initiative? Wäre es nicht vernünftiger, den Aufbau der eigenen militärischen Fähigkeiten nicht aus den Augen zu verlieren und der Ukraine nur das zu liefern, was man entbehren kann und nicht „militärisch blank zu ziehen“? Schließlich steht ja noch immer das Restrisiko eines zumindest probeweisen Angriffs Russlands auf NATO-Territorium im Raum, um die Entschlossenheit des westlichen Bündnisses zur kollektiven Verteidigung auf die Probe zu stellen bzw. dessen Einheit zu sprengen. Außerdem könnte gerade bei einer zunehmend ambivalenten Haltung der USA ein zusätzlicher Anreiz für eine russische Provokation der NATO darin bestehen, die europäischen Bündnispartner so zu einer Priorisierung ihrer eigenen Verteidigungsanstrengungen zu zwingen und dafür die Unterstützung der Ukraine aufzugeben – was Russland dann einen Sieg über diese ermöglichen würde. Es liegt nahe zu vermuten, dass dies umso wahrscheinlicher wäre, je stärker die Europäer in der Ukraine engagiert und je schwächer damit ihre eigene Kampffähigkeit ist. Eine logische Konsequenz wäre, nicht unerhebliche militärische Fähigkeiten (und damit auch Waffensysteme etc.) in der Hinterhand zu behalten und somit die Waffenlieferungen an die Ukraine zu beschränken, um dem Risiko eines russischen Übergriffs gegen die NATO im Sinne der Abschreckungslogik vorzubeugen – oder Moskau nicht zu einer vermeintlich drohenden Eskalation wegen einer angeblich „kriegsbesoffenen“ Aufrüstung der Ukraine zu provozieren oder dem Kreml gegenüber implizit eine gewisse Verhandlungsbereitschaft zu signalisieren, wie dies unlängst Gregor Gysi angeregt hat.   

Doch hier liegt aus strategietheoretischer Sicht ein Trugschluss vor. Zu erinnern ist an die Bewertung einer strategischen Reserve im Krieg durch Carl von Clausewitz. Dieser betont im dritten Buch seines Werkes „Vom Kriege“ zunächst den Unterschied zwischen einer mehr oder weniger zwingenden oder zumindest naheliegenden taktischen und einer strategischen Reserve: „Eine Reserve hat zwei Bestimmungen, die sich wohl voneinander unterscheiden lassen, nämlich: erstens, die Verlängerung und Erneuerung des Kampfes, und zweitens, der Gebrauch gegen unvorhergesehene Fälle. Die erste Bestimmung setzt den Nutzen einer sukzessiven Kraftanwendung voraus und kann deshalb in der Strategie nicht vorkommen. Die Fälle, wo ein Korps nach einem Punkt hingeschickt wird, der im Begriff ist, überwältigt zu werden, sind offenbar in die Kategorie der zweiten Bestimmung zu setzen, weil der Widerstand, welchen man hier zu leisten hat, nicht hinlänglich vorhergesehen worden ist. Ein Korps aber, was zur bloßen Verlängerung des Kampfes bestimmt und zu dem Behuf zurückgestellt ist, würde nur außer dem Bereich des Feuers gestellt, dem im Gefecht Befehlenden untergeordnet und zugewiesen, mithin eine taktische und keine strategische Reserve sein. Das Bedürfnis aber, eine Kraft für unvorhergesehene Fälle bereit zu haben, kann auch in der Strategie vorkommen, und folglich kann es auch strategische Reserve geben: aber nur da, wo unvorhergesehene Fälle denkbar sind. In der Taktik, wo man die Maßregeln des Feindes meistens erst durch den Augenschein kennenlernt, und wo jedes Gehölz und jede Falte eines wellenförmigen Bodens dieselben verbergen kann, muss man natürlich immer mehr oder weniger auf unvorhergesehene Fälle gefasst sein, um diejenigen Punkte unseres Ganzen, welche sich zu schwach zeigen, hinterher zu verstärken und überhaupt die Anordnung unserer Kräfte mehr nach Maßgabe der feindlichen einrichten zu können. Auch in der Strategie müssen solche Fälle vorkommen, weil der strategische Akt unmittelbar an den taktischen anknüpft. Auch in der Strategie wird manche Anordnung erst nach dem Augenschein, nach ungewissen, von einem Tage zum anderen, von einer Stunde zur anderen eingehenden Nachrichten, endlich nach den wirklichen Erfolgen der Gefechte getroffen; es ist also eine wesentliche Bedingung der strategischen Führung, dass nach Maßgabe der Ungewissheit Streitkräfte zur späteren Verwendung zurückgehalten werden“ (von Clausewitz, Vom Kriege, 3. Buch: Von der Strategie überhaupt, S. 123f.)

Allerdings erscheint die Sinnhaftigkeit des Zurückhaltens von Kräften in einer strategischen Reserve als Vorsichtsmaßnahme gegen Überraschungen oder Restrisiken, die sich durch mögliche Aktivitäten des Feindes ergeben fraglich. Von Clausewitz nennt hierfür als Gründe die geringe Wahrscheinlichkeit bzw. Möglichkeit genuiner strategischer Überraschungen (im Gegensatz zu solchen auf taktischer Ebene), die im Zeitverlauf immer weiter abnehmende Aussicht auf einen umfassenden Erfolg durch einen (zu) späten Einsatz zurückgehaltener Kräfte und die (im Unterschied zur Taktik) im strategischen Kontext gegebene, typischerweise frühe Entscheidung:  „Aber diese Ungewissheit nimmt ab, je weiter sich die strategische Tätigkeit von der taktischen entfernt und hört fast ganz auf in jenen Regionen derselben, wo sie an die Politik grenzt. (...) Je größerer Art die Maßnahmen werden, um so weniger kann man damit überraschen. Zeiten und Räume sind so groß, die Verhältnisse, aus welchen die Handlung hervorgeht, so bekannt und wenig veränderlich, dass man das Ergebnis entweder zeitig genug erfährt oder mit Gewissheit erforschen kann. Von der anderen Seite wird auch der Gebrauch einer Reserve, wenn sie wirklich vorhanden wäre, in diesem Gebiete der Strategie immer unwirksamer, je weiter die Maßregel das Ganze hinaufrückt. Wir haben gesehen, dass die Entscheidung eines Teilgefechts an sich nichts ist, sondern dass alle Teilgefechte erst in der Entscheidung des Totalgefechts ihre Erledigung finden. Aber auch diese Entscheidung des Totalgefechts hat nur eine relative Bedeutung in sehr vielen Abstufungen, je nachdem die Streitkraft, über welche der Sieg errungen ist, einen mehr oder weniger großen und bedeutenden Teil des Ganzen ausmachte. (...) es ist ebenso klar, dass das Gewicht eines jeden Sieges (der glückliche Erfolg eines jeden Totalgefechts) um so selbständiger wird, je bedeutender der besiegte Teil war, und dass also die Möglichkeit, das Verlorene durch ein späteres Ereignis wieder einzubringen, in dieser Richtung immer mehr abnimmt. (...)  Fügen wir nun endlich diesen beiden Betrachtungen noch die dritte hinzu, nämlich, dass, wenn der nachhaltige Gebrauch der Streitkräfte in der Taktik die Hauptentscheidung immer gegen das Ende des ganzen Aktes hin verschiebt, das Gesetz des gleichzeitigen Gebrauchs in der Strategie umgekehrt die Hauptentscheidung (welches nicht die endliche zu sein braucht) fast immer am Anfang des großen Aktes stattfinden lässt, so werden wir in diesen drei Resultaten Gründe genug haben, um strategische Reserve immer entbehrlicher, immer unnützer und immer gefährlicher zu finden, je mehr ihre Bestimmung umfassend ist“ (von Clausewitz, Vom Kriege, 3. Buch: Von der Strategie überhaupt, S. 124)

Mit anderen Worten ist bei von Clausewitz der entschlossene und konsequente Einsatz aller Kräfte zur Entscheidung ganz im Sinne des Gebots der Konzentration der Kräfte die Hauptaufgabe der Strategie. Ein Zurückhalten von Kräften ist daher gleichbedeutend mit einer selbstverschuldeten Verschlechterung der eigenen Erfolgschancen: „Der Punkt aber, wo die Idee der strategischen Reserve anfängt widersprechend zu werden, ist nicht schwer zu bestimmen; er liegt in der Hauptentscheidung. Die Verwendung aller Kräfte muss sich innerhalb der Hauptentscheidung befinden, und jede Reserve (fertiger Streitkräfte), welche erst nach dieser Entscheidung gebraucht werden sollte, ist widersinnig. Wenn also die Taktik in ihren Reserven das Mittel hat, nicht bloß den unvorhergesehenen Anordnungen des Feindes zu begegnen, sondern auch den niemals vorherzusehenden Erfolg des Gefechts da, wo er unglücklich ist, wieder gutzumachen, so muss die Strategie, wenigstens was die große Entscheidung betrifft, auf dieses Mittel verzichten; sie kann die Nachteile, welche auf einem Punkt eintreten, in der Regel nur durch die Vorteile wieder gutmachen, die sie auf anderen erhält, und in wenigen Fällen, indem sie Kräfte von einem Punkte zum anderen überführt; niemals aber soll oder darf sie auf den Gedanken kommen, einem solchen Nachteil durch eine zurückgestellte Kraft im voraus begegnen zu wollen“ (von Clausewitz, Vom Kriege, 3. Buch: Von der Strategie überhaupt, S. 124f.). 

Für von Clausewitz ist es also keine Frage, dass eine strategische Reserve für die Vorbeugung gegen den „Fall des Falles“ völlig sinnlos ist. Dass sie in Kriegen gleichwohl immer wieder gebildet wird und dann häufig kontraproduktiv wirkt, illustriert er am Beispiel der Niederlage Preußens gegen Napoleon im Krieg von 1806: „Wir haben die Idee einer strategischen Reserve, welche bei der Hauptentscheidung nicht mitwirken soll, für widersinnig erklärt, und das ist sie so unzweifelhaft, dass wir gar nicht versucht gewesen sein würden, sie einer solchen Analyse zu unterwerfen, wie in diesen beiden Kapiteln geschehen ist, wenn sie sich nicht, unter anderen Vorstellungen verkappt, etwas besser ausnähme und so häufig zum Vorschein käme. Der eine sieht in ihr den Preis strategischer Weisheit und Vorsicht, der andere verwirft sie und mit ihr die Idee jeder Reserve, folglich auch der taktischen. Dieser Ideenwirrwarr geht ins wirkliche Leben über, und will man ein glänzendes Beispiel davon sehen, so erinnere man sich, dass Preußen 1806 eine Reserve von 20.000 Mann unter dem Prinzen Eugen von Württemberg in der Mark kantonieren ließ, welche dann die Saale zur rechten Zeit nicht mehr erreichen konnte, und dass andere 25.000 Mann dieser Macht in Ost- und Südpreußen zurückblieben, welche man als eine Reserve erst später auf den Feldfuß setzen wollte. Nach diesen Beispielen wird man uns wohl nicht schuld geben, daß wir mit Windmühlen gefochten haben“ (von Clausewitz, Vom Kriege, 3. Buch: Von der Strategie überhaupt, S. 125).

Die Bedeutung dieser theoretischen Perspektive von Clausewitz‘ für die gegenwärtige Frage der Unterstützung der Ukraine ist klar: Vor dem Hintergrund der trotz allem insgesamt begrenzten Ressourcen Russlands ist es zumindest für diejenigen NATO-Staaten, die von einem provokativen „Testangriff“ der russischen Streitkräfte auf das Territorium des Bündnisses nicht unmittelbar betroffen wären, widersinnig, Waffensysteme zurückzuhalten, die der Ukraine ein wirksames Weiterkämpfen ermöglichen. Denn zum einen bindet die Ukraine die russischen Streitkräfte und bringt ihnen Verluste in einem Umfang bei, dass ein größerer russischer Angriff auf die NATO in naher Zukunft wohl praktisch unmöglich ist. So gehen US-Schätzungen von bislang über 300.000 gefallenen oder verwundeten russischen Soldaten und mehr als 200 Milliarden US-Dollar an direkten Kriegskosten für die russische Staatskasse aus. Zum anderen verschafft ihr andauernder Widerstand dem Westen weiter die (bislang unzureichend genutzte) Zeit, die er benötigt, um die eigene Verteidigungsinfrastruktur und Rüstungsindustrie wiederaufzubauen und auf ein Niveau zu heben, das mit der russischen mithalten bzw. sie übertreffen kann – und so quasi automatisch auch eine schnelle Wiederaufrüstung der nationalen Streitkräfte der NATO-Länder ermöglicht. Diese, durchaus zynisch realpolitisch anmutenden Möglichkeiten würden deutlich reduziert, wenn die westlichen Staaten als „nichtkriegführende“ Parteien in dem Konflikt Unterstützungspotenziale für die Ukraine brachliegen lassen würden. Ein ukrainische Niederlage würde u.a. Russland die Chance zur Erholung seiner Streitkräfte und Kriegswirtschaft sowie deutlichen moralischen Auftrieb geben, was wahrscheinlich die Bedrohungslage für das Baltikum, Polen oder Finnland massiv erhöhen und den revisionistischen Mächten in der Welt insgesamt zusätzliche Aggressionsanreize geben würde.

Die Ukraine jetzt nicht mit allen verfügbaren Mitteln, sprich: Lieferungen aller vorhandenen Systeme und Munitionsvorräte, zu unterstützen bedeutet also letztlich, sich dafür zu entscheiden, im schlimmsten Fall lieber mit allen Konsequenzen auf eigenem (Bündnis-) Gebiet und direkt gegen Russland zu kämpfen, als den Krieg in der Ukraine zu nutzen, Russland ohne eigene (Menschen-) Verluste zu konfrontieren und von einem Angriff auf die NATO abzuhalten. Die Ukraine ist gegenwärtig zweifellos der Schauplatz der „Hauptentscheidung“ in der Auseinandersetzung mit Russland. Denn je länger, verlustreicher und letztendlich erfolglos Russland in der Ukraine kämpfen muss, desto weniger wahrscheinlich sind sowohl ein russischer Sieg im gegenwärtigen Krieg als auch die Gefahr eines weiteren territorialen Ausgreifens der Ambitionen der russischen Führung bis hin zu einem Krieg mit der NATO. Es ist also strategisch sinnvoll für diejenigen Staaten des Bündnisses, welche nicht zugleich auch militärisch in anderen Regionen engagiert sind (Naher Osten, Taiwan) oder ganz unmittelbar an der Grenze zu Russland liegen und die Ostflanke der NATO absichern, nach dem Muster Dänemarks ebenfalls „all in“ zu gehen, was Waffen und Gerät betrifft, welche die Ukraine am dringendsten benötigt. 

Die Einschränkung auf die europäischen Staaten, die quasi im geographischen Windschatten der östlichen NATO-Mitglieder liegen, lässt sich – durchaus im prinzipiellen Einklang mit dem Grundgedanken von Clausewitz‘ – mit der pragmatischen Blick des Zeitgenossen und Kritikers von Clausewitz‘, Henri-Antoine Jomini, auf strategische Reserven begründen: „Diese Reserven werden vor allem in den Gegenden nützlich sein, welche eine doppelte Operationsfront zeigen. Sie können alsdann die doppelte Bestimmung haben, die zweite Front zu beobachten, und können im Bedürfnisfalle an den Operationen der Hauptarmee teilnehmen, wenn der Feind dazu gelangte, die Flanken zu bedrohen, oder wenn eine Niederlage sie zwänge, sich der Reserve zu nähern. Es ist unnötig hinzuzufügen, dass man nichtsdestoweniger vermeiden muss, in den Fehler gefährlicher Entsendungen zu verfallen. Jedes Mal, wenn man diese Reserven entbehren zu können glaubt, muss man es wagen, sie nicht zu bilden oder zum Mindesten nur Depots hierzu zu verwenden. (...) Nur im Falle einer ernsten Invasion, wenn man neue Aufgebote anordnet, wird eine solche Reserve in einem verschanzten Lager und unter dem Schutze einer als Depot dienenden Festung durchaus nötig sein. (...) Man wird mich davon entbinden zu zeigen, dass diese Reserven die wichtigsten strategischen Punkte, welche sich zwischen der wirklichen Basis der Grenzen und der Operationsfront, oder zwischen dem Zielpunkt und der Basis vorfinden, besetzen müssen. Sie werden die festen Plätze bewachen, wenn schon solche genommen sind, sie werden diejenigen einschließen oder beobachten, welche noch in Feindeshänden sind, und wenn man keinen einzigen besitzt, um diesen Reserven als Stützpunkt zu dienen, so wird man dieselben damit beschäftigen, einige verschanzte Lager oder Brückenköpfe anzulegen, um die großen Depots der Armee zu schützen und die Stärke der eigenen Armeen hierdurch zu erhöhen“ (Jomini, Abriss der Kriegskunst, S. 105). 

Insgesamt handelt Dänemark also durchaus ganz im Sinne Clausewitzscher strategischer Rationalität, wobei nicht zuletzt auch das damit gesetzte politische Signal der Entschlossenheit an den Kreml nicht vergessen werden darf: Denn der Ausgang eines Krieges hängt schließlich von der Widerstandskraft der Kontrahenten ab, und „diese drückt sich durch ein Produkt aus, dessen Faktoren sich nicht trennen lassen, nämlich: die Größe der vorhandenen Mittel und die Stärke der Willenskraft“ (von Clausewitz, Vom Kriege, 1. Buch: Über die Natur des Krieges, S. 5f.). Oder in den Worten der Premierministerin Lettlands, Evika Silina: „Wenn du anfängst zu glauben, dass du verloren hast, hast du wirklich verloren. Wir können nicht in die Falle tappen und anfangen zu glauben, dass wir verloren haben. (...) Was ist dann die Option? Werden Sie Russland beitreten? Auf keinen Fall. Also wachen Sie auf, stehen Sie von der Couch auf und beginnen Sie, das Beste zu tun, was Sie für Ihr Land und für sich selbst tun können.“

     

Literatur/Links

Bugayova, Nataliya (2023): The High Price of Losing Ukraine: Part 2 – The Military Threat and Beyond. Institute for the Study of War, Washington D.C., 22. Dezember 2023, https://www.understandingwar.org/sites/default/files/The%20High%20Price%20of%20Losing%20Ukraine%20Part%202%20-%20The%20Military%20Threat%20and%20Beyond%20PDF_0.pdf .

von Clausewitz, Carl (2010 [1832-1834] Vom Kriege. Augsburg/Berlin: Bibliotheca Augustana/Clausewitz-Gesellschaft, https://www.clausewitz-gesellschaft.de/wp-content/uploads/2014/12/VomKriege-a4.pdf

Jomini, Antoine-Henri (2009 [1838/1881]): Abriss der Kriegskunst. Zürich: vdf Hochschulverlag an der ETH Zürich, https://www.research-collection.ethz.ch/bitstream/handle/20.500.11850/151150/eth-41726-01.pdf .