Finnland als Militärmacht

Mit dem angekündigten Beitrittsgesuch Finnlands zur NATO wird sich – sofern das finnische Parlament und alle NATO-Mitgliedsstaaten zustimmen, was augenblicklich noch nicht völlig sicher erscheint – die geostrategische Position der Allianz gegenüber Russland grundlegend verändern. Nicht nur wird die NATO statt wie bisher ca. 1.200 Kilometer (im Baltikum, in Nordskandinavien und um die Exklave Kaliningrad herum) rund 2.500 Kilometer direkter Grenze zu Russland haben; diese Grenze wird auch von Norden auf gut 150 Kilometer an das Zentrum St. Petersburg heranrücken, vergleichbar der Distanz zwischen Narva an der estnisch-russischen Grenze und der ehemaligen russischen Hauptstadt. Zudem wird das Territorium der NATO auf breiterer Front als bisher an die Oblast Murmansk grenzen, an deren Küste sich die zentralen Stützpunkte der russischen Nordflotte in der Barentssee befinden und damit das Rückgrat der strategischen U-Bootflotte und der seegestützten nuklearen Zweitschlagfähigkeit Russlands. Auch die Seeverbindung zwischen Russland und der Exklave Kaliningrad wird zukünftig auf beiden Seiten des finnischen Meerbusens (Finnland und Estland) von der NATO kontrolliert.

Aus russischer Sicht ist ein Beitritt Finnlands zur NATO damit durchaus ein gravierendes strategisches Problem, nicht zuletzt im Hinblick auf eine potenzielle Bedrohung eines Teils seines Abschreckungssystems und die Notwendigkeit, eine deutlich längere Grenze gegenüber dem Bündnis mit den vorhandenen Streitkräften abzudecken. Dass die russische Armee angesichts ihrer in der Ukraine deutlich gewordenen begrenzten Zahl und Leistungsfähigkeit damit Schwierigkeiten haben dürfte, wird auch an der aggressiven Rhetorik des Kreml gegenüber Finnlands (und auch Schwedens) NATO-Ambitionen und der demonstrativen Stationierung von Küstenverteidigungsraketensystemen vom Typ K 300P nahe der finnischen Grenze auf der karelischen Landenge sichtbar, welche mit der Drohung der Verlegung nuklearer Systeme ins Baltikum begleitet wurde. 

Dabei darf man auch nicht vergessen, dass Finnland durchaus über ein bemerkenswertes Militärpotenzial verfügt: So haben die finnischen Streitkräfte einen Friedensstand von etwa 25.000 Männern und Frauen, welcher dank der beibehaltenen Wehrpflicht – jedes Jahr werden knapp 20.000 dienstverpflichtete Männer und freiwillig dienende Frauen ausgebildet – im Verteidigungsfall innerhalb weniger Tage auf etwa 280.000 aufgestockt werden kann. Insgesamt verfügt Finnland über rund 900.000 Männer und Frauen an Reserven – bei einer Bevölkerung von gerade einmal gut fünfeinhalb Millionen Menschen. Zum Vergleich: Die Bundeswehr hat gegenwärtig einen Umfang von ca. 184.000 Soldatinnen und Soldaten, mit rund 40.000 kurzfristig, bei erhöhtem Bedarf ca. 232.000 verfügbaren Reservistinnen und Reservisten. Wehrrechtlich umfasst die gesamte Reserve 900.000 Personen – die gleiche Zahl wie in Finnland, aber bei einer fast 15-mal so großen Bevölkerung!    

Trotz verschiedentlich konstatierter Kritik an seinem Modernitätsstand verfügen die finnischen Streitkräfte auch über eine ernstzunehmende Ausrüstung (darunter die nach Griechenland, Italien und Polen zahlenmäßig viertstärkste Artillerie aller EU-Staaten und damit unter Berücksichtigung Russlands und der Türkei die sechststärkste ganz Europas): Laut Military Balance 2021 gehören dazu 200 Kampfpanzer (inklusive eingelagerter Einheiten) vom Typ Leopard 2 A4/6 (zum Vergleich: Deutschland 323), 825 Schützen- und Mannschaftstransportpanzer (D: 1.438), 672 Artilleriegeschütze und Raketenwerfer (D: 262) und 62 Kampfflugzeuge (D: 128) vom Typ F-18C/D, welche in den kommenden Jahren durch 64 F-35 ersetzt werden sollen. Im für den globalen Vergleich militärischer Schlagkraft häufig zitierten Global Firepower Index, in den rund 50 demographische, ökonomische, geographische und militärisch-technische Indikatoren einfließen, belegt Finnland gegenwärtig Platz 51 von 142 gerankten Staaten (D: 16), rangiert also weit über seinem demographischen Gewicht (Platz 105, D: 19), aber zugleich im oberen Viertel der nationalen Verteidigungsetats (Platz 35, D: 5).   

Vor dem Hintergrund der traditionellen Ausrichtung der finnischen Verteidigungsdoktrin auf eine totale Territorialverteidigung im Zusammenspiel lokaler und regionaler Heimatverteidigungskräfte mit den mobilen Verbänden der gekaderten regulären Einheiten der polustusvoimat sowie den bisherigen Erfahrungen des aktuellen Ukraine-Krieges kann man daher wohl getrost behaupten, dass Finnland für eine etwaige russische Aggression gut gerüstet und eine wertvolle militärische Ergänzung für die NATO-Verteidigung sein dürfte. Selbst etwaige, von manchen Kommentatoren befürchtete militärische Schritte Russlands gegen Finnland in der Phase zwischen einem formellen Beitrittsgesuch zur NATO und der Inkraftsetzung der Mitgliedschaft nach Ratifikation des Beitrittsprotokolls durch alle bisherigen Mitgliedsstaaten und Finnland selbst dürften trotz aller Drohungen vor diesem Hintergrund faktisch wenig Sorgen bereiten: Zum einen hat die russische Armee gegenwärtig zweifellos nicht die Kapazitäten, einen erfolgreichen Angriffskrieg gegen finnische Streitkräfte zu führen, welche sich (im Unterschied zur Ukraine) seit Jahrzehnten auf ein solches Szenario vorbereitet haben, gut ausgerüstet und zahlreich sind und von den geographischen Gegebenheiten des dünn besiedelten Landes mit seinen weitläufigen Wald-, Moor- und Seenlandschaften profitieren können. 

Zum anderen hat nicht nur das Vereinigte Königreich für die Übergangsphase bereits offiziell seine Beistandspflicht bekundet, sondern im Zweifel gilt auch die Beistandsklausel des Art. 42 (7) EUV, wonach im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats (...) die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung [schulden], im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen.“ Dass dies „den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt“ lässt, ist im Falle Finnlands nicht unbedingt relevant, denn das Land nimmt an allen verteidigungspolitischen Initiativen der EU teil, etwa der permanenten strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) und dem Europäischen Verteidigungsfonds. 

Zudem ist die bisherige Bündnisfreiheit Finnlands nicht als strikte, dauernde Neutralität wie im Fall der Schweiz oder Österreichs zu interpretieren, sondern vielmehr als Teil einer pragmatischen außenpolitischen Flexibilität, welche jederzeit auch angepasst werden kann. Nicht umsonst stellte die finnische Regierung bereits vor der gegenwärtigen Krise in Osteuropa im Hinblick auf die EU fest: „Deepening security and defence cooperation within the EU strengthens the Union as an independent actor and as a security community, and provides tools for developing the defence of the Member States. France and Germany have a central role, the continuation of which is necessary for deepening EU defence cooperation. Finland supports strengthening the EU’s security and defence policy and actively participates in the framing of the EU’s common defence policy. It is in Finland’s interest that the EU is able to defend its interests, promote stability in its neighbouring regions and to support the defence of Europe, as stated in the Global Strategy for the European Union’s Foreign and Security Policy. Finland is ready to provide and receive assistance in accordance with the European Union’s mutual assistance clause (TEU Article 42 paragraph 7) and solidarity clause (TFEU Article 222). Requesting and providing assistance is based on a national decision. Finland also participates in the exercises related to the application and implementation of these articles“ (Finnish Government 2021: 41).   

  

Literatur/Links:

Finnish Government (2021): Government’s Defence Report. Helsinki: Finnish Government. https://julkaisut.valtioneuvosto.fi/bitstream/handle/10024/163407/VN_2021_80.pdf?sequence=4&isAllowed=y 

IISS (International Institute for Strategic Studies) (2021): The Military Balance 2021. London: Routledge. 

Puolustusvoimat/The Finnish Defence Forces (2022): National Defence is Everybody’s Business – Facts about the Finnish Defence Forces. Helsinki: Puolustusvoimat. https://puolustusvoimat.fi/documents/1948673/2267766/SST_PV_Maanpuolustus_taskuesite_0122_EN.pdf/66aed18d-871e-3f99-d347-ec16e37e94e2/SST_PV_Maanpuolustus_taskuesite_0122_EN.pdf?t=1648036441945