Offene Fragen zur Wagner-Gruppe

In seiner gestrigen Fernsehansprache hat Präsident Putin klar gemacht, dass die Mitglieder der Wagner-Gruppe, denen er zugestand, zum größten Teil „russische Patrioten“ zu sein, nach ihrer Rebellion vom Wochenende drei Zukunftsoptionen haben: a) sich per Vertrag in die regulären Streitkräfte oder Sicherheitsorgane eingliedern zu lassen, b) zu ihren Familien nach Hause zurückzukehren, oder c) nach Belarus auszuwandern und so ihrem Chef Jewgeni Prigoschin zu folgen. Ganz offensichtlich gibt es damit keine Möglichkeit mehr, dass Wagner als russische PMC weiterexistiert. Dies wirft jedoch einige Fragen auf, welche diese naheliegende und anscheinend logische Lösung des Problems in diffuserem Licht erscheinen lassen:

1. Es bestehen wohl nur geringe Aussichten, die Masse der Wagner-Kämpfer tatsächlich für die Armee zu rekrutieren. Für die Angehörigen der Gruppe wurden die regulären Streitkräfte und insbesondere ihre Führung in den letzten Jahren zu einem regelrechten Feindbild, mit dem es in der Ukraine sogar direkte Konfrontationen gab und der angesichts ihrer dortigen Performance nicht zuletzt Verachtung entgegengebracht wird. Dies zeigt sich auch im offenbar verbreiteten Unmut unter den Söldnern über den Abbruch des Marsches auf Moskau, selbst gegenüber Prigoschin selbst. Zudem gibt es möglicherweise Hinweise darauf, dass die Angriffe der Armee sowie das Dekret, alle Privatarmeen dem Verteidigungsministerium zu unterstellen, möglicherweise sogar die Antwort auf geheimdienstlich ermittelte Befürchtungen einer lange vorbereiteten Rebellion der Wagner-Gruppe waren, und nicht, wie von Prigoschin behauptet ihr Auslöser. Dies würde darauf hindeuten, dass die Opposition der Wagner-Gruppe zum Militärestablishment sogar noch grundsätzlicher sein könnte als ohnehin vermutet. So oder so stellt sich die Frage, wie der Verlust von erfahrenen und skrupellosen Truppen und damit die Schwächung der Front in der Ukraine angesichts der ukrainischen Gegenoffensive kompensiert werden soll, zumal zumindest auch tschetschenische Milizen zumindest temporär aus der Ukraine abgezogen wurden, um die Wagner-Aufständischen zu bekämpfen. 

2. Selbst wenn ein Teil der ehemaligen Wagner-Söldner in die Armee eintritt, ergibt sich das Problem, wie sie dort behandelt werden sollen. Sicher wird es wegen ihrer fraglicher Loyalität keine geschlossenen Einheiten von Wagner-Veteranen geben, auch wenn Putin in seiner Rede implizierte, dass sie lediglich von durch die USA und den Westen gesponserte Verräter verführt worden seien. Aber selbst wenn sie auf die Verbände der Armee verteilt werden, stellt sich die Frage, ob sie als erfahrene, aber häufig ausgesprochen brutale Kämpfer nicht ein falsches Vorbild für die russischen Soldaten, insbesondere junge Rekruten sein könnten, das ein Risiko in Bezug auf Disziplin und Führungsfähigkeit der Truppe darstellt. 

3. Fraglich ist auch die Rolle von Wagner in Belarus, wenn eine Anzahl von Söldnern ihrem Chef dorthin folgt. Wird die Wagner-Gruppe zukünftig eine PMC unter belarussischer Flagge sein? Kann Prigoschins Truppe – so er am Leben und ihre Leitfigur bleibt – glaubwürdig als Privatarmee zum Schutz des Regimes Lukaschenkos und als Bargaining-Chip für den belarussischen Diktator gegenüber Moskau dienen, etwa für Dienste etwa in Übersee oder als potenzielle Drohung eines neuerlichen Putschversuchs gegenüber dem Kreml? Oder wäre eine belarussische Wagner-Gruppe nicht vielmehr eine latente Gefahr als Staat im Staat in einem im Vergleich zu Russland sogar noch korrupteren und potenziell fragileren System? Ganz abgesehen davon kann man getrost bezweifeln, dass es in Moskaus Interesse ist, einer in Belarus neu konstituierten Wagner-Gruppe ähnliche Freiheiten zuzugestehen wie sie sie in Russland faktisch hatte. 

4. Der Kreml muss auch klären, inwieweit Wagner (etwa von Belarus aus) zukünftig noch als Instrument für die Erledigung der Schmutzarbeit russischer Interessen ohne direkte offizielle Involvierung der russischen Regierung im Rest der Welt dienen kann. Bekanntlich spielte die Söldnergruppe etwa in Syrien, Libyen und Mali eine zentrale Rolle beim Ausbau des russischen Einflusses, und es stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls wie die Wagner-Gruppe dort und für ähnliche Operationen ersetzt werden kann.

5. Schließlich bleibt noch die Frage nach der Zukunft des sicherheitspolitischen und militärischen Establishments und Verteidigungsapparates in Russland, dessen gravierende Kompetenz- und Motivationsmängel nicht nur das zentrale Motiv des Dauerkonflikts zwischen Prigoschin auf der einen und Verteidigungsminister Shoigu und Generalstabschef Gerassimow auf den anderen Seite war, sondern auch durch den praktisch ungehinderten Vormarsch der Wagner-Söldner über hunderte von Kilometern Richtung Moskau nochmals eindrücklich unterstrichen wurden. Zwar sind fachliche Fähigkeiten in Putins Führungszirkel weniger bedeutend als unbedingte Loyalität gegenüber dem Präsidenten, weshalb sich Putin vor allem mit alten Bekannten aus seiner Petersburger Zeit umgeben hat und letztlich ganz im Stil eines Paten im Kontext organisierter Kriminalität herrscht. Dennoch ergibt sich zunehmend die Notwendigkeit einer gewissen Mindestkompetenz derjenigen, welche Putins Regierung längerfristig absichern sollen, auch angesichts der Probleme an der ukrainischen Front, die im Kontext des von Putin wohl anvisierten langfristigen Konflikts mit dem „Westen“ zumindest dauerhaft halten muss, und bei der Aufrechterhaltung des bestehenden innerstaatlichen Herrschaftsapparates angesichts offenbar desorganisierter und demoralisierter Sicherheitskräfte. Daraus ergibt sich etwa das Problem des Umgangs mit dem in den Streitkräften wohl nicht sonderlich beliebten Verteidigungsministers. Dessen sofortige Entlassung ist offensichtlich nicht möglich, weil dies als von Prigoschin getrieben erscheinen und als zusätzliches Zeichen von Putins Schwäche interpretiert werden könnte. Aber nach einer Karenzzeit von vielleicht einigen Wochen oder Monaten wäre ein solcher Schritt (auch in Form eines „freiwilligen“ Rücktritts oder der „Beförderung“ in ein anderes, faktisch unwichtiges Amt) durchaus denkbar, zumal der Präsident als „Pate“ auch gegenüber seinem unmittelbaren Umfeld Stärke demonstrieren muss. Ein Hinweis darauf, dass dies nicht abwegig ist, ist möglicherweise, dass Putin zumindest in seiner jüngsten Rede keinerlei Dank an die Armee für die Beendigung des Wagner-Aufstandes, sondern nur Respekt gegenüber den getöteten Crews der von Wagner-Kämpfern abgeschossenen Flugzeuge und Helikopter äußerte und Shoigu zum Treffen Putins mit den Leitern der Sicherheitskräfte nicht wie gewohnt in Uniform, sondern im Zivilanzug erschien.