Wird Deutschland eine Kriegspartei? – Eine völkerrechtliche Perspektive

Das Zaudern der Bundesregierung hinsichtlich der heiß diskutierten Lieferung schweren Geräts, insbesondere von Kampf- und Schützenpanzern sowie Panzerhaubitzen, hat verschiedene Facetten, von der Frage mehr oder weniger pazifistisch motivierter innerparteilicher Widerstände, über die Furcht einer zusätzlichen Provokation Russlands mit einer potenziellen Gefährdung der deutschen Erdgasimporte bis hin zu organisatorischen und technischen Problemen, etwa, was die tatsächliche Einsatzbereitschaft der in Frage kommenden Waffensysteme inklusive einer offenbar fraglichen Munitionsversorgung, die Dauer der Vorbereitung und Durchführung etwaiger Lieferungen oder die notwendige Ausbildung der ukrainischen Soldaten an ihnen unbekanntem Gerät angeht. Eine zentrale Befürchtung, welche aus völkerrechtlicher Sicht interessant erscheint, ist außerdem, dass Deutschland mit der Lieferung von „Offensiv“-Waffen eine Schwelle überschreitet und selbst zur Kriegspartei und womöglich das potenzielle Ziel russischer Gegenschläge, etwa in Form gravierender Cyberattacken, oder sonst irgendwie aktiv in den Krieg hineingezogen werden könnte. 

Um diese völkerrechtliche Problematik zu klären, muss man sich vor allem zweier Aspekte bewusst werden: Erstens haben sich die Verpflichtungen von nicht direkt an Gewaltkonflikten beteiligten Staaten im Zeitverlauf verändert, insbesondere durch die Satzung der Vereinten Nationen von 1945; zweitens sind die Möglichkeiten einer legalen Gewaltanwendung in Folge einer Verletzung völkerrechtlicher Pflichten stark begrenzt, so dass selbst aus etwaigen Völkerrechtsbrüchen Deutschlands gegenüber Russland nicht automatisch ein russisches Recht für einen Angriff auf Deutschland resultieren würde.

Das traditionelle Völkerrecht unterscheidet im Kriegsfall zwei Arten von Staaten: diejenigen, die den Krieg führen, und diejenigen, die dies nicht tun, also in dem Konflikt neutral bleiben. Niedergelegt etwa im Rahmen der Haager Abkommen von 1907, bestehen die Pflichten eines neutralen Staates darin, sich nicht an Kampfhandlungen zu beteiligen und keine der beiden Seiten zu bevorzugen. Dies schließt ein, dass nicht an eine der Kriegsparteien Waffen geliefert oder etwa die ökonomischen Beziehungen gegenüber dem Zustand vor dem Krieg einseitig zugunsten (oder zulasten) einer Seite verändert werden. Auch wenn es grundsätzlich das gute Recht jedes Staates ist, sich seine Handelspartner auszusuchen und Wirtschafts- und Finanzbeziehungen auch einseitig zu reduzieren oder abzubrechen, kann man davon ausgehen, dass die Lieferung von Waffen an die Ukraine und massive Wirtschaftssanktionen gegen Russland als Strafmaßnahme für die Invasion der Ukraine einen Verstoß gegen dieses Neutralitätsrecht darstellen. 

Nun stammt diese Rechtsfigur aber aus einer Zeit, in der es jedem souveränen Staat quasi frei gestattet war, Krieg zu führen und entsprechend eine Unterscheidung von Angreifer und Verteidiger völkerrechtlich irrelevant war. Daher war es das Ziel des zeitgenössischen Völkerrechts, Kriege in ihrem Umfang und in ihren humanitären Folgen einzuhegen, nicht, sie als Instrument der Politik zu unterbinden. Genau dies passierte aber nach den beiden Weltkriegen. Im Briand-Kellogg-Pakt (Kriegsächtungspakt) von 1928 verzichteten die Vertragsparteien – zu denen heute auch Russland und Deutschland gehören – auf die Anwendung von Gewalt zur Austragung ihrer Konflikte, und die Satzung der Vereinten Nationen etablierte das allgemeine Gewaltverbot (Art. 2 (4) SVN), mit dem der Krieg grundsätzlich verboten wurde. Gleichzeitig etablierte die Satzung der Vereinten Nationen mit ihrem Kapitel VII die Möglichkeit des Sicherheitsrates, Gewaltanwendung gegen Aggressoren zu gestatten, und unterstrich das naturgegebene Recht eines angegriffenen Staates auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung (Art. 51 SVN). In der heutigen Völkerrechtswelt macht es demnach durchaus einen Unterschied, wer der Angreifer und wer der Angegriffene ist, und grundsätzlich ist es legal, letzteren bei seiner Verteidigung gegen einen Aggressor zu unterstützen. 

In der gleichen Logik erklärte die angesehene, 1873 gegründete Vereinigung für internationales Recht (International Law Association/Association de Droit International) bereits in ihrer Budapester Erklärung zur Interpretation des Kriegsächtungspakt von 1934, dass es den Vertragsparteien gestattet sei, gegenüber einem Staat, der seine Verpflichtung aus dem Vertrag verletzte (also einen Krieg beginnt), die Pflichten eines Neutralen gegenüber dem Aggressor abzulehnen. Hierzu wurde ein neuer Status, nämlich der eines „Nicht-Kriegführenden“ eingeführt, der keine direkte Kriegspartei, aber auch nicht auf Neutralität verpflichtet ist. Im Zweiten Weltkrieg beriefen sich etwa die USA vor ihrem offiziellen Kriegseintritt Ende 1941 auf diese Rechtsfigur, um die militärische Unterstützung Großbritanniens gegen Deutschland durch das Land-Lease-Abkommen zu legitimieren.

Natürlich bleibt dabei rechtstheoretisch das Risiko bestehen, dass Angreifer und Verteidiger nicht eindeutig bestimmt werden können und die Unterstützung im schlimmsten Fall der falschen Kriegspartei zugute kommt, zumindest solange der Sicherheitsrat nicht feststellt, wer der Aggressor ist – was in der aktuellen Situation durch das Veto Russlands am 25. Februar verhindert wurde. Genau für einen solchen Fall gibt es jedoch gemäß dem „Uniting for Peace“-Ansatz nach GVRes. 377 (V) die Möglichkeit, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine entsprechende Resolution verabschiedet. Sie kann zwar laut Satzung der Vereinten Nationen keine rechtsverbindlichen Beschlüsse über Krieg und Frieden wie der Sicherheitsrat fassen, doch werden ihre Resolutionen bei entsprechend großer Zustimmung durchaus als Ausdruck der Rechtsüberzeugung der Mitgliedsstaaten und sogar möglicherweise als Hinweis auf Völkergewohnheitsrecht angesehen, beides neben den Verträgen anerkannte Quellen des Völkerrechts. Am 1. März hat die Generalversammlung bekanntlich mit einer überwältigenden Mehrheit von 141 Ja- gegen fünf Nein-Stimmen (bei 35 Enthaltungen) die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine als Verstoß gegen Art. 2 (4) SVN verurteilt. Geht man davon aus, dass eine Zwei-Drittel-Mehrheit in der Literatur als ausreichend für die Feststellung einer Aggression angesehen wird, ist damit durchaus eine Rechtsgrundlage für eine Aufgabe der strikten Neutralitätsregeln gegeben. 

Nach dieser Interpretation des Völkerrechts ist es also legal, die Ukraine als unrechtmäßig angegriffenem Staat mit konventionellen Waffen zu beliefern – die Art der Waffen spielt dabei keine Rolle; von nichtkonventionellen, d.h. ABC-Waffen ist in der Debatte nicht die Rede und diese würden auch zusätzliche Rechtsprobleme aufwerfen, etwa im Hinblick auf den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag von 1968, die B-Waffen-Konvention von 1972 oder das C-Waffen-Übereinkommen von 1993, ganz zu schweigen vom 2+4-Vertrag von 1990 –, und die Bundesrepublik befindet sich damit im Status einer Nicht-Kriegspartei, nicht eines Neutralen. Selbst wenn dies rein hypothetisch nicht völkerrechtskonform wäre, etwa weil – wie Kreml letztlich ja behauptet – tatsächlich eigentlich nur eine Art Notwehr- oder Nothilfehandlung von Seiten Russlands vorläge, würde das jedoch nicht das Recht Russlands zum gewaltsamen Vorgehen gegen die waffenliefernden Staaten nach sich ziehen. Zu einer Kriegspartei wird ein Staat nämlich nur durch die eigene oder ihm zuzurechnende Anwendung von Gewalt, d.h. Deutschland würde nur zur Kriegspartei, wenn Deutschland einer Kriegspartei sein Territorium für Operationen zur Verfügung stellen (wie Belarus), deutsche Truppen (keine Privatpersonen oder Freiwillige!) oder von Deutschland finanzierte, ausgerüstete und kontrollierte andere reguläre oder irreguläre Streitkräfte in die Kämpfe eingreifen oder russisches Territorium oder russische Streitkräfte (z.B. Kriegsschiffe oder Kampfflugzeuge) angreifen würden. Dies geht aus der Aggressionsdefinition der Resolution 3314 der Generalversammlung von 1974 sowie den Urteilen des IGH im Fall Nicaragua gegen USA von 1986 bzw. des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien im Fall Tadic 1999 hervor. All dies liegt im gegenwärtigen Fall nicht vor. 

Völkerrechtsverstöße auch in internationalen Konfliktlagen führen also nicht per se zum Recht auf eine militärische Antwort. Solange also die Ukraine über den Einsatz der gelieferten Waffensysteme frei selbst entscheidet, gibt es keinen völkerrechtlichen Ansatzpunkt für eine Ausweitung der russischen Kampfhandlungen auf Deutschland bei einer Intensivierung der Waffenlieferungen – und damit zumindest keine rechtliche Ausrede für deren Vermeidung. Ob die völkerrechtliche Perspektive aus russischer Sicht gegenüber strategischen Erwägungen überhaupt ins Gewicht fällt, ist natürlich eine ganz andere Frage. Und auch ein offenbar in Politik und Wirtschaft gefürchtetes Zudrehen des Gashahns durch Russland, wie schädlich es auch für die russischen Finanzen selbst wäre, ist letztlich kein völkerrechtliches, sondern politisches Problem.

  

Literatur/Links:

Bindschedler, Rudolf L. (1956): Die Neutralität im modernen Völkerrecht. Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 17: 1-37.

International Court of Justice (1986): Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America). Judgement of 27 June 1986. https://www.icj-cij.org/en/case/70/judgments .

Krajewski, Markus (2022): Weder neutral noch Konflitkpartei? Zur rechtlichen Bewertung von Waffenlieferungen an die Ukraine. Völkerrechtsblog, 9.3.2022, DOI: 10.17176/20220310-001022-0. https://voelkerrechtsblog.org/weder-neutral-noch-konfliktpartei/ .

Schreuer, Christoph/Binder, Christina (2005): Das Verhältnis von Generalversammlung und Sicherheitsrat in Friedenssicherungsangelegenheiten. In: K. Dicke u.a. (Hg.), Weltinnenrecht. Liber amicorum Jost Delbrück, Berlin (Duncker & Humblot): 639-663.

Talmon, Stefan (2022): Waffenlieferungen an die Ukraine als Ausdruck eines wertebasierten Völkerrechts. Verfassungsblog, 9.3.2022, DOI: 10.17176/20220309-121220-0. https://verfassungsblog.de/waffenlieferungen-an-die-ukraine-als-ausdruck-eines-wertebasierten-volkerrechts/ .