Waffenlieferungen zwischen realpolitischem Zynismus und naivem Pazifismus

In einem offenen Brief an den Bundeskanzler vom 22. April sprechen sich einige Intellektuelle, darunter etwa verschiedene Politikwissenschaftler, Antje Vollmer und Konstantin Wecker, gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für eine Ermutigung der ukrainischen Regierung aus, den militärischen Widerstand „gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine politische Lösung“ im Sinne der Ersetzung der bestehenden „Kriegslogik (...) durch eine mutige Friedenslogik“ und der Schaffung einer neuen europäischen und globalen „Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas“ zu beenden. Dieser Brief hat eine teilweise stark polemisch geführte Kontroverse nach sich gezogen, u.a. mit Stellungnahmen aus der Universität Marburg , aus der Zivilgesellschaft  oder von ukrainischen Diplomaten. Tatsächlich sind die Forderungen des Briefes alles andere als neu, sondern gehören zum Grundbestand eines eher links orientierten, idealistischen Pazifismus - wobei zumindest eine Interpretation des letztgenannten Aspekts als realitätsfern von seinen Vertretern selbst wohl vehement bestritten würde. Ähnlich gelagerte Argumentationen zum Ukraine-Krieg gab es bereits vorher, sowohl von (selbstiniziierten) deutschen public intellectuals als auch von Friedensforschern, welche der Ukraine vom bewaffneten Kampf gegen die russische Invasion abrieten und stattdessen eine diplomatische Lösung und zivilen, gewaltfreien Widerstand oder einfach eine Kapitulation der Ukraine forderten.  

Sicherlich ist das primär humanitäre Motiv dieser Stellungnahmen ehrenwert, und die Äußerungen sind Ausdruck einer im demokratischen (im  Unterschied zum autokratischen wie etwa dem russischen) Kontext legitimen Möglichkeit und Notwendigkeit, das Handeln der Regierung kritisch zu hinterfragen. Dies gilt umso mehr, als es durchaus Eskalationsgefahren des Ukraine-Krieges gibt, nicht zuletzt angesichts der zunehmend offensiven Rhetorik etwa der britischen Regierung, welche eine umfassende Niederlage und die Wiederherstellung der Grenzen der Ukraine von vor der Krim-Annexion mit militärischen Mitteln fordert. Angesichts der bekannten Drohungen von russischer Seite und der relativ geringen Hemmschwelle für den Einsatz taktischer Atomwaffen gemäß der russischen Militärdoktrin erscheint eine solche Erhöhung des Drucks auf die russische Führung durchaus nicht unbedenklich. 

Auch die Frage, ob es der Ukraine tatsächlich gelingen kann, in diesem Krieg letztendlich wirklich einen Abwehrsieg gegen Russland zu erzielen, kann man angesichts der aktuellen militärischen Lage durchaus diskutieren. Schließlich hat die laufende russische Offensive wohl noch nicht den Einsatz der Mehrheit der zur Verfügung stehenden Verbände gesehen, und die russische Führung hofft augenscheinlich auf eine Zerrüttung der ukrainischen Kommunikations- und Versorgungslinien durch Beschuss mit Distanzwaffen und Artillerie sowie auf eine Besserung der Wetter- und Bodenverhältnisse in den nächsten Tagen – auch wenn die Luft- und Raketenangriffe auf Verkehrsknotenpunkte im Westen der Ukraine zeigen, dass der Zustrom westlichen Militärmaterials in die Ukraine von der russischen Seite als gravierendes Problem angesehen wird und die militärische Performance der russischen Streitkräfte bekanntlich bislang alles andere als beeindruckend war. Aus einer eher zynisch anmutenden, (neo-) realistischen Sicht kann man sogar behaupten, dass ein baldiges Ende des Krieges möglicherweise gar nicht im strategischen Interesse des Westens liegt. Vielmehr böte ein andauernder Stellvertreterkrieg niedriger Intensität zwischen der vom Westen unterstützten Ukraine und Russland den zentralen Vorteil, Streitkräfte und Wirtschaft des letzteren bei relativ geringen eigenen Kosten (Waffenlieferungen und Wirtschaftshilfe für die Ukraine) langfristig so zu schwächen, dass Russland keine echte Bedrohung der NATO mehr darstellen würde und man sich insbesondere von Seiten der USA auf die Auseinandersetzung mit dem eigentlichen globalen peer competitor China konzentrieren könnte.  

Gleichwohl stellen sich verschiedene kritische Fragen an den Pazifismus der genannten Art: Hat man als Außenstehender überhaupt das Recht, auch bei gering erscheinenden Erfolgschancen des Widerstands militärische Unterstützung zu verweigern, wenn sie vom Opfer geradezu flehentlich eingefordert wird? Nach der Logik, dass sich der vermeintlich Schwächere dem Stärkeren notgedrungen ergeben soll, wären die meisten Verteidigungskriege und Freiheitsbewegungen in der Geschichte sinnlos oder abzulehnen gewesen, angefangen beim Widerstand der Griechen gegen die Perser im 5. Jahrhundert vor Christus bis zu den meisten Entkolonialisierungsbewegungen und Befreiungskriegen des 20. Jahrhunderts. Wie steht es um die Aufrechterhaltung von grundlegenden Normen wie Freiheit, nationale Selbstbestimmung und Souveränität, deren Verteidigung im Extremfall auch mit Gewalt und daraus resultierenden Opfern erfolgen kann oder gar muss? Rechtfertigt die Aufforderung, die Waffen zu strecken, letztlich nicht gerade eine imperialistische Interpretation der internationalen Beziehungen, gemäß der Macht faktisch Recht bedeutet und Großmächte kleinere Staaten nach Belieben dominieren oder gar beseitigen können?

Natürlich kann man die Auffassung vertreten, dass im Kontext individueller human security eher abstrakte staats- und völkerrechtliche Aspekte möglicherweise weniger wichtig als das konkrete Leben und die Gesundheit des Einzelnen, aber was ist mit Gerechtigkeit und grundlegenden Menschenrechten als essentiellen Elementen von human security? Ist es entsprechend tatsächlich die Sorge um die ukrainische (Zivil-) Bevölkerung, welche zu Kapitulationsideen führt, oder stehen nicht zuletzt die eigene Bequemlichkeit oder die Angst um die eigene Sicherheit – auf Kosten der Ukrainerinnen und Ukrainer – dahinter? Wie scharf lassen sich also, zugespitzt formuliert, legitime Vorsicht und profane Feigheit trennen? Sascha Lobo hat unlängst von einem wohlfeilen, von antikapitalistisch-postmarxistischen und antiamerikanischen Überzeugungen getragenen „Lumpenpazifismus“ geschrieben, der den eigentlichen Opfern aus der Behaglichkeit der eigenen Sicherheit mehr oder weniger absurde Tipps zum gewaltlosen Widerstand gibt, z.B. Demonstrationen gegen die russischen Truppen gibt, welche offensichtlich auch nicht vor gravierenden Kriegsverbrechen zurückschrecken.  

Solche Empfehlungen basieren letztlich auf dem mehr oder weniger naiven Optimismus, dass ein Rest von Menschlichkeit und Zivilisiertheit auch in der brutalsten Besatzungsmacht steckt, deren politische Führung wie im Fall Russlands einem anderen Staat das Existenzrecht und seiner Bevölkerung die eigene nationale Identität abspricht. Dies erscheint zumindest sehr gewagt und erinnert mich persönlich fatal an die alternativhistorische Erzählung „Das letzte Gebot“ von Harry Turtledove, in der Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewinnt und dann als neue Kolonialmacht in Indien mit dem gewaltlosen Widerstand Mahatma Ghandis konfrontiert wird. Nachdem den nationalsozialistischen Deutschen die – in der Realgeschichte trotz allem durchaus noch vorhandene – demokratisch-rechtsstaatliche Selbstrestriktion des britischen Raj der 1930er und 1940er Jahre abgeht, ist klar, wie dieser Konflikt endet: mit der Niederschlagung des Widerstands mit unsäglicher Brutalität  und der sang- und klanglosen Hinrichtung Ghandis und seiner Getreuen. 

Gibt es schließlich gerade angesichts der militärischen Entwicklung des Krieges nicht auch Zwischentöne zwischen humanitär begründeter Kapitulation der Ukraine und Kampf bis zum totalen Sieg über Russland? Gerade die Beobachtungen der letzten Wochen sind möglicherweise ein Exempel dafür, dass auch gegenüber einem überlegenen Gegner erfolgreicher militärischer Widerstand möglich ist, wenn man sich nicht auf einen offenen, symmetrischen Kampf einlässt, sondern alternative strategisch-operative Konzepte und taktische Verfahren einsetzt. Entsprechend würden pazifistische Forderungen wie die oben genannten, nicht nur eine letztlich durch antiamerikanische und scheinbar antiimperialistische Grundhaltung geprägte Verharmlosung des Aggressors bedeuten, sondern auch eine aufgrund antimilitaristischer Reflexe unzureichende Kenntnis des vielschichtigen modernen Kriegsbildes implizieren, durch welche die strategietheoretisch seit jeher als durchaus möglich erachtete Idee einer erfolgreichen Kriegführung des Schwächeren von vorneherein ausgeschlossen wird. Man fühlt sich angesichts der gegenwärtig vorgebrachten Argumente an die Auseinandersetzungen der 1980er Jahre erinnert, als vor dem Hintergrund der nuklearen Bedrohung des Kalten Krieges und der Nachrüstungsdebatte der Slogan „Lieber rot als tot“ wieder populär und zugleich in sicherheits- und friedenspolitischen Kreisen intensive Expertendiskussionen um alternative Militärstrategien („defensive Verteidigung“, Raumverteidigung etc.) geführt wurden. Möglicherweise gibt es ja auch heute noch die Möglichkeit eines „Weder rot noch tot“, wie ein vielzitiertes zeitgenössisches Werk zur Verteidigungspolitik hieß.   

Unabhängig davon, wie man zu den sicherlich sehr kritikwürdigen pazifistischen Positionen zum Ukraine-Krieg steht, sind sie zweifellos ein Hinweis auf die Notwendigkeit, den Ukraine-Krieg von seinen möglichen Ergebnissen differenzierter und langfristiger zu denken, als dies bislang in Öffentlichkeit und großen Teilen der Politik geschieht. Vier Aspekte sollten dabei - neben der im Augenblick wohl ausgeschlossenen Beendigung der Kampfhandlungen - im Mittelpunkt stehen: erstens die Vermeidung einer Eskalation zu einem räumlich und qualitativ größeren Krieg; zweitens der mittel- und langfristige Umgang mit einem Russland (auch unter einem weiterbestehenden Regime Putin), das den Westen weiterhin als Bedrohung sieht und eigene revisionistische bis revanchistische Ambitionen hegt; drittens die Gewährleistung einer Entwicklung der Ukraine zu einem sicheren und demokratischen Rechtsstaat angesichts massiver diesbezüglicher Defizite und einer nun auch noch bis an die Zähne bewaffneten Gesellschaft; sowie viertens die grundsätzlichen Folgerungen für die Interessen und die Stellung Deutschlands und Europas in einer internationalen Ordnung, welche auf absehbare Zeit durch den neuen Systemwettbewerb des Westens mit autoritären und staatskapitalistischen Systemen wie China oder eben Russland geprägt sein dürfte – inklusive aller militärischen und nichtmilitärischen Instrumente einer gesamtgesellschaftlichen „hybriden“ Konfliktaustragung.

Insofern ist der jüngste „Offene Brief der Intellektuellen“ und die Auseinandersetzung darum wenigstens dahingehend ein gutes Zeichen, dass die emotional-moralische (oder moralisierende) Entrüstung über den Überfall auf die Ukraine trotz aller menschlichen Schrecken des andauernden Krieges (mit der daraus resultierenden moralischen Verzweiflung, die sich auch in dem Brief niederschlägt) wenn schon nicht einem abgeklärteren Realismus, so doch zumindest einer vielschichtigeren, stärker verantwortungsethisch und pragmatisch geprägten Diskussion Platz machen könnte. Ein weiterer offener Brief von prominenten Kulturschaffenden, Journalisten und Akademikern wie Alexander Kluge, Reinhard Mey, Martin Walser, Dieter Fuhr, Gerhard Polt, Rangar Yogeshwar und Wolfgang Merkel vom heutigen 29. April weist ebenfalls in diese Richtung, indem er zwar ebenfalls die weitere Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ablehnt; dies geschieht jedoch weniger aus naivem Pazifismus als aufgrund des damit verbundenen Eskalationsrisikos und der vorsichtigeren Frage nach der Verhältnismäßigkeit zwischen dem "Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung" und dem "berechtigte[n] Widerstand gegen einen Aggressor". Außerdem wird - und das mag man nun angesichts der unmittelbaren Nöte der Ukrainerinnen und Ukrainer auch wiederum als zynisch (wenngleich längerfristig realistisch) empfinden - vor dem "Beginn einer weltweiten Rüstungsspirale mit katastrophalen Konsequenzen (...), nicht zuletzt auch für die globale Gesundheit und den Klimawandel" gewarnt.

  

Literatur/Links:

Lobo, Sascha (2022): Ukraine-Krieg: Der deutsche Lumpen-Pazifismus. Spiegel online, 20. April 2022, https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/ukraine-krieg-der-deutsche-lumpen-pazifismus-kolumne-a-77ea2788-e80f-4a51-838f-591843da8356.

Löser, Jochen (1981): Weder rot noch tot. Überleben ohne Atomkrieg – eine sicherheitspolitische Alternative. München: Olzog.

Turtledove, Harry (1990): Das letzte Gebot. In: K. M. Armer (Hg.), Hiroshima soll leben! Die schönsten Alternativwelt-Geschichten, München (Heyne): 97-144.

U.N. Human Security Unit, Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (2009): Human Security in Theory and Practice, New York, https://www.unocha.org/sites/dms/HSU/Publications%20and%20Products/Human%20Security%20Tools/Human%20Security%20in%20Theory%20and%20Practice%20English.pdf.