China in der "Peak Power Trap"?

Wir haben uns weitgehend daran gewöhnt, dass in den Medien und auch in der Wissenschaft der rasante ökonomische, politische und militärische (Wieder-) Aufstieg der Volksrepublik China meist als quasi unaufhaltsame Entwicklung hin zur führenden Weltmacht dargestellt wird. In den Internationalen Beziehungen hat diese Vorstellung seit den 2010er Jahren zu kritischen Diskussionen um das insbesondere von Graham Allison propagierte Konzept der „Thukydides-Falle“ geführt. Auf der Basis einer Reihe historischer Vergleiche und seiner Lesart des Ausbruches des Peloponnesischen Krieges im 5. Jahrhundert vor Christus als mehr oder weniger unausweichlicher Konflikt zwischen einer zunehmend stagnierenden und auf die Bewahrung des internationalen Status quo bedachten Macht (Sparta) und einem ökonomisch wie politisch-militärisch dynamischen, zunehmend ambitionierter werdenden Aufsteigers (Athen) wird dabei ein Muster der Machttransition im internationalen System abgeleitet, welches auch für die Beziehungen zwischen den USA und China zutreffen soll. Danach steht auf der einen Seite die bisherige, spätestens seit dem Ende der Kalten Krieges unangefochtene Nummer eins der Welt, die USA, und auf der anderen Seite die immer stärker und selbstbewusster werdende Volksrepublik, welche den Vereinigten Staaten aufgrund ihrer wirtschaftlichen und militärisch-technologischen Wachstumsdynamik den dominierenden Platz im internationalen System streitig macht. Die Idee der Thucydides Trap geht davon aus, dass dieser Konstellation nach dem Beispiel etwa der weltpolitischen Auseinandersetzung zwischen dem UK und dem Deutschen Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein hohes militärisches Eskalationsrisiko innewohnt. 

Unabhängig von einer Reihe theoretischer wie empirischer Einwände gegen Allisons Modell gibt es jedoch in den letzten Jahren zunehmend Stimmen, welche die fundamentale Annahme der „Thukydides-Falle“ wie auch anderer Einschätzungen des chinesischen Aufstiegs zur global dominierenden Macht in Zweifel ziehen. Es besteht nämlich eine Reihe struktureller Probleme, welche ein weiteres ungebrochenes wirtschaftliches Wachstum und damit Zunahme des politisch-militärischen Gewichts Chinas nachhaltig beeinträchtigen könnten. 

Dazu gehören erstens Tendenzen zur Bildung von Gegenallianzen gegen die chinesischen Ansprüche im Indo-Pazifik, z.B. die jüngste US-Initiative zur Schaffung eines Indo-Pacific Economic Framework for Prosperity (mit Japan, Australien, Indien, Indonesien, Neuseeland, Südkorea, Brunei, Thailand, Singapur, Vietnam, Malaysia und den Philippinen), der 2007 ins Leben gerufene und seit Mitte der 2010er Jahre intensivierte Quadrilateral Security Dialogue („Quad“) zwischen USA, Japan, Indien und Australien oder AUKUS, die Militärkooperation zwischen Australien, dem UK und den USA. 

Zweitens wächst auch über die Region hinaus die Skepsis gegenüber den politischen Implikationen des wirtschaftlichen Ausgreifens Chinas mit der seit 2013 verfolgten "Belt and Road“-Initiative (BRI). Dies umfasst zum einen Kritik an der unterstellten chinesischen „Debt-Trap Diplomacy“, d.h. der vermeintlich absichtlichen Überschuldung von Staaten durch Kredite, um bei drohender Zahlungsunfähigkeit strategische Zugeständnisse von ihnen zu erpressen, und dem seit etwa 2017 zu beobachtenden rhetorisch und mit wirtschaftlichen Sanktionen bewehrten robusteren Auftreten der chinesischen Diplomatie gegenüber „unbotmäßigen“ Staaten („Wolf Warrior Diplomacy“. Zum anderen führt diese Skepsis zunehmend zu Gegenmaßnahmen und –initiativen, vom Ausschluss chinesischer Konzerne aus als sicherheitspolitisch sensibel eingestuften Investitionsprojekten (z.B. 5G) bis hin zur aktuellen „Global Gateway Initiative“ der EU, welche nicht zuletzt in Afrika einen Gegenentwurf zu den Infrastrukturinvestitionen der BRI darstellen soll.

Drittens wird die wirtschaftliche Dynamik Chinas zunehmend durch strukturelle Probleme gebremst, wie an sinkenden Wachstumsraten zu sehen ist. Folgt man dem Konzept der „Middle Income Trap“ der Weltbank, so ist es für ein Entwicklungsland relativ einfach, sich zum Status eines Schwellenlands („middle income country“, je nach Definition mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 15 bis 45 % des US-Niveaus oder zwischen rund 1.000 und 13.000 US-Dollar) hochzuarbeiten: Billige Arbeitskräfte
aus der Landwirtschaft können zusammen mit Sachkapitalinvestitionen einen Industrialisierungsschub inklusive Urbanisierung und Exportorientierung 
der Produktion („Werkbank der Welt“) initiieren, welcher ein deutliches Wirtschaftswachstum und die Überwindung großflächiger Armut nach sich zieht. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von gegenwärtig ca. 10.000 US-Dollar p.a. und der von der KPCh immer wieder zur eigenen Legitimation betonten Befreiung von 800 Millionen Menschen aus absoluter Armut in den letzten Jahrzehnten ist China heute ein Land mittleren Einkommens. Nach Kaufkraftparitäten hat es die USA vor ein paar Jahren als größte Volkswirtschaft der Welt überholt, aber die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung liegt noch immer weit hinter derjenigen der USA und anderer westlicher Staaten zurück. 

Nur verhältnismäßig wenigen Schwellenländern ist bislang jedoch der Sprung zum High Income Country und damit zu einer wirklich nachhaltig führenden Wirtschaftsmacht gelungen (z.B. Japan oder Südkorea). Dies liegt daran, dass für den Sprung in diese Liga eine Reihe von keineswegs einfach herzustellenden Bedingungen zu erfüllen ist, sobald die Wachstumsdynamik durch niedrige Löhne auf der Basis eines großen ländlichen Arbeitskräftepotenzials erschöpft ist. Nachdem der Wettbewerbsvorteil niedriger Löhne aufgrund steigender Arbeitsnehmereinkommen wegfällt – China lagert beispielsweise aufgrund zu hoher Lohnkosten Produktionszweige, etwa in der Textilbranche zunehmend aus, z.B. nach Äthiopien –, müssen dauerhaftes Wachstum und damit steigender Pro-Kopf-Wohlstand durch andere Faktoren gewährleistet werden, v.a. durch technologische Innovation, Infrastruktur- und Humankapitalinvestitionen, und Außenhandelsdiversifizierung. Auch  makroökonomische Stabilität und stabile, verlässliche Institutionen sind unabdingbar für High Income Countries. Die sogenannte  „Middle Income Trap“ bedeutet nun, dass ein Schwellenland auf der auf der mittleren Entwicklungsstufe verharrt, u.a. wegen unzureichenden Bildungssystems, Fehlallokation von Investitionen (Investitionsblasen), fehlender Innovationskultur, mangelnder ökonomischer und politischer Stabilität sowie unzureichender Institutionen (Rechtsstaatlichkeit, Korruption). 

Genau dies scheint durchaus in hohem Maß auf die Volksrepublik China zuzutreffen, denn das Land leidet unter deutlichen strukturellen Problemen wie

1. Investitionsblasen und Überkapazitäten aufgrund vergangener Fehlallokationen, v.a. im Immobilien-/Bausektor, der rund ein Viertel zum chinesischen BIP beiträgt, aber mittlerweile etwa 20 Prozent Leerstand bei Immobilien sowie eine Reihe von gravierenden Unternehmenspleiten (Stichwort: Evergrande) aufweist, welche durch die überseeische Nutzung von Überkapazitäten in der BRI kaum dauerhaft aufgefangen werden dürften; 

2. einem hohen Schuldenstand von Unternehmen, privaten Haushalten und regionalen Gebietskörperschaften jenseits des Zentralstaates, welche mittlerweile zusammen über 350% des BIP umfasst und damit zu den höchsten aller Industrie- und Schwellenländer gehört;

3. einem politischen System, in dem es gerade unter Xi Jinping wieder immer weniger Freiheiten für unternehmerische Aktivitäten gibt, aufgrund des Primates von Staat und Partei keine echte Rechtsstaatlichkeit (im Sinne einer Beschränkung von deren Durchgriffsrechten) existiert, ja existieren kann, und sich mangelnde politische Freiheiten und Korruption negativ auf das Innovations- und Investitionsklima auswirken;

4. einer negativen demographischen Entwicklung mit einer rapide alternden Gesellschaft, einem schrumpfenden Arbeitskräftepotenzial (2011: 925 Mio. 15-59-Jährige, 2021: 894 Mio.) und einer steigenden Abhängigkeitsrate (Relation zwischen Rentnern und aktiven Arbeitskräften), einem Problem, das etwa für die USA als Einwanderungsland auf absehbare Zeit nicht relevant ist; 

5. einem  Bildungswesen, in dem insbesondere die Land-, aber auch große Teile der Stadtbevölkerung schlechte Chancen auf einen höheren (Sekundar-) Schulabschluss haben, was durch die beschränkte Freizügigkeit in der Land-Stadt-Migration (nur erlaubt für Arbeitskräfte, nicht für ihre Familien) und die mangelnde Attraktivität Chinas noch verstärkt wird; 

6. einer (gerade im Vergleich zu den USA) weiter bestehenden hohen Außenhandelsabhängigkeit, welche eine relativ hohe Anfälligkeit für exogene Schocks und protektionistische Maßnahmen des Auslands (etwa der USA!) nach sich zieht und deren Abnahme in den letzten Jahren sich deutlich auf das Gesamtwachstum niedergeschlagen hat, also noch nicht durch Binnennachfrage kompensiert werden konnte. 

Fasst man diese Aspekte zusammen, so erscheinen die Aussichten Chinas, die USA als wirtschaftlich (und damit in der Folge politisch und militärisch) erste Macht in der Welt ablösen zu können, ausgesprochen gering. Trifft dies zu – und die chinesische Führung kann den strukturellen Problemen zumindest zum Teil entgegensteuern –, was folgt daraus für die „Thukydides-Falle“? Nun, diese würde offensichtlich obsolet, denn die Gesamtkonstellation würde nicht ihren Annahmen entsprechen: China wäre nicht die unaufhaltsam, jeden Widerstand zu brechen bereite Aufsteigermacht, und die USA müssten aufgrund ihrer langfristig weiterbestehenden strukturellen Überlegenheit keine Angst vor dem „Emporkömmling“ haben. 

Im Gegensatz zu dem, was man daher vermuten könnte, würde die Gefahr einer militärischen Konfrontation damit aber nicht abnehmen: Im Gegenteil, Vertreter der „Peak Power Trap“ warnen demgegenüber davor, dass eine Macht, die sich ausrechnen kann, in Zukunft gegenüber dem internationalen „Platzhirsch“ wieder schwächer zu werden, in Versuchung geraten wird, ihre Ambitionen mit Gewalt durchzusetzen, solange ihr eigener relativer Abstieg noch nicht wirksam geworden ist. In diesem Sinne hätte die Nummer 2 zwar keine langfristige Aussicht, praktisch automatisch Nummer 1 (und damit das Ziel von Gegenmaßnahmen der bisherigen Nummer 1) zu werden, sondern lediglich ein „window of opportunity“, trotz letztlich schlechter Chancen eine Konfrontation zu suchen, in dem Bewusstsein, dass ihr zukünftig die Felle davonschwimmen. 

In diesem Sinne ist die Folge einer strukturellen Wachstumsschwäche Chinas sogar eine noch gefährlichere internationale Konstellation, welche mithin ein genaueres Abbild historischer Beispiele wäre, als sie von der „Thukydides-Falle“ unterstellt werden. Schließlich war etwa auch 1914 die Bereitschaft Deutschlands zum Krieg gegen Frankreich, Russland und evtl. Großbritannien (oder 1941 diejenige Japans gegen die USA) weniger das Resultat des Vertrauens in einen ungebrochenen Aufstieg, in dessen Verlauf die etablierten Mächte einfach zur Seite gefegt werden müssten, sondern die Furcht, in absehbarer Zeit einen Konflikt nicht mehr erfolgreich bestehen zu können. Trotz tatsächlich wahrgenommener schlechter Chancen auf einen Sieg wurde der Krieg für die militärischer und politischer Eliten angesichts der eigenen Ansprüche unvermeidbar zur letzten Chance, diese zu realisieren. Mit dem bekannten Ergebnis, aber getreu dem Motto des preußischen Kriegsministers von Falkenhayn im Sommer 1914: “Und wenn wir darüber zugrunde gehen, schön war’s doch!“  

  

Literatur/Links:

Allison, Graham (2015): The Thucydides Trap. Are the U.S. and China Headed for War? The Atlantic, 24.9.2015, https://www.hks.harvard.edu/sites/default/files/centers/mrcbg/files/Allison%2C%202015.09.24%20The%20Atlantic%20-%20Thucydides%20Trap.pdf .

Brands, Hal/Beckley, Michael (2021): China is a Declining Power – and That’s the Problem. Foreign Policy, 24.9.2021, https://foreignpolicy.com/2021/09/24/china-great-power-united-states/ .

Chaudry, Tariq Kamal (2022): China und die Falle des mittleren Einkommens. Fokus Economics, Hamburg Commercial Bank, 5.1.2022, https://www.hcob-bank.de/media/pdf_3/marktberichte/kapitalmarktberichte/fokusthemen/2022_2/hcob_-_fokus_china_mit_formatiert_deutsch.pdf .

Hanania, Richard (2021): Graham Allison and the Thucydides Trap Myth. Strategic Studies Quarterly, 15 (4): 13-24, https://www.airuniversity.af.edu/Portals/10/SSQ/documents/Volume-15_Issue-4/SC-Hanania.pdf .

Rajah, Roland/Leng, Alyssa (2022): Revising down the rise of China. Lowy Institute, Sydney, 15.3.2022, https://www.lowyinstitute.org/publications/revising-down-rise-china .