Die übertriebene Angst vor dem Atomkrieg

Ein zentrales Motiv, welches sich in den diversen offenen Briefen gegen die stärkere Involvierung Deutschlands in den Ukrainekrieg durch die Lieferung von Waffen, respektive schweren Waffen, niederschlägt, ist die Angst, die Bundesrepublik könnte damit zur Kriegspartei werden und in eine Eskalationsspirale geraten, an dessen Ende ein Dritter Weltkrieg stünde. Nach landläufiger Meinung würde ein solcher dann wohl auch automatisch ein Nuklearkrieg sein. Und angesichts der bislang wenig erfolgreichen konventionellen Kriegführung Russlands in der Ukraine und der dortigen Bindung eines Großteils des russischen Heeres in einem mit seinen Artillerie- und Stellungskämpfen zunehmend an die Weltkriege erinnernden Abnutzungskrieg hätte die russische Führung gegenwärtig auch kaum eine andere Möglichkeit mit anderen als nichtkonventionellen Mitteln gegen die NATO vorzugehen, wenn sie das wollte. 

Obwohl wie immer im Krieg ein minimales Restrisiko eines russischen Atomwaffeneinsatzes nicht auszuschließen ist, gibt es jedoch fünf gewichtige Gründe, die einen solchen höchst unwahrscheinlich erscheinen lassen;

Erstens ist üblicherweise die Rede von taktischen Atomwaffen oder „mini nukes“, deren Einsatz in der russischen Wahrnehmung sicherlich eine geringere Hemmschwelle hat als derjenige strategischer Systeme, da sie aus einer sehr engen militärtechnischen Perspektive als eine Art deutlich vergrößerter Artillerie betrachtet werden könnten, etwa nach dem Vorbild der Nuklearartillerie der 1950er und 1960er Jahre. Mit der Verwendung solcher Waffensysteme in der Ukraine wäre sicherlich das seit 1945 gültige „nukleare Tabu“ gebrochen, wonach Atomwaffen nicht gegen Nichtnuklearstaaten oder überhaupt nicht als taktisch-operative militärische Instrumente eingesetzt werden, sondern allenfalls als politisch-strategische Abschreckung gegen einen Ersteinsatz durch einen Gegner. (Man denke etwa daran, dass das Vereinigte Königreich im sich gerade zum 40. Mal jährenden Falklandkrieg 1982 auf die Androhung eines Nuklearwaffeneinsatzes gegen Argentinien verzichtet hat.) Allerdings würde ein taktischer Atomwaffenangriff Russlands in der Ukraine (oder schlimmstenfalls gegen Nachschub- und Trainingslager in Grenznähe von NATO-Staaten) nicht automatisch eine nukleare Reaktion der NATO nach sich ziehen. Vielmehr könnte deren Antwort auch etwa in gezielten konventionellen Schlägen gegen die Logistikinfrastruktur und die Armeeführung in der Ukraine bzw. an den russischen Grenzen oder massiven Cyberattacken bestehen. Dies wäre umso wahrscheinlicher, als eine Reaktion auf gleichem Eskalationsniveau wegen der Diskrepanz zwischen den russischen und den US-amerikanischen taktischen Nukleararsenalen in Europa, der grundsätzlich anderen, weil vor allem auf strategische Abschreckung ausgerichteten Rolle von Atomwaffen in der NATO-Perspektive und der deutlichen Überlegenheit der Allianz in der Luft keine wirklich zielführende Option wäre, zumal, wenn keine Invasion eines NATO-Staates stattfindet – wozu Russland offenbar im Augenblick gar nicht die Fähigkeiten hat. Selbst ein taktischer Nuklearwaffeneinsatz Russlands würde damit höchstwahrscheinlich nicht zu einer umfassenden nuklearen Eskalation und einem thermonuklearen Armageddon führen.

Zweitens wäre der militärische Mehrwert eines taktischen Atomwaffeneinsatzes wohl eher gering. Sicherlich könnte man damit den Nachschub insbesondere an westlichen Waffen für die Ukraine empfindlich stören, doch das würde die ukrainische Seite nur dann entscheidend treffen, wenn ein großflächiger Einsatz gegen eine Vielzahl von Zielen stattfinden würde. Dies wiederum würde durch die entsprechende Verstrahlung weiter Landstriche kontraproduktiv für die Bewegungen der russischen Streitkräfte sein (zumal sich natürlich die Frage stellt, warum man ein Land teilweise völlig unbewohnbar machen sollte, das man befreien will). Angesichts der bereits jetzt zu beobachtenden Mängel in Ausrüstung, Ausbildung, Versorgung und Moral bei der russischen Armee erscheint es praktisch ausgeschlossen, dass sie in der Lage wäre, den Krieg unter ABC-Schutzbedingungen weiterzuführen. Entsprechend scheidet auch ein taktischer Nuklearwaffeneinsatz, um die ukrainische Front zu durchbrechen, wohl von vorneherein aus.   

Drittens sind die möglichen Kollateralschäden eines Atomwaffeneinsatzes zu bedenken. Selbst wenn man unterstellt, dass der russischen Führung das Schicksal ukrainischer Bürger völlig gleichgültig ist und humanitäre oder völkerrechtliche Erwägungen für sie irrelevant sind, bestünde doch das Risiko, dass radioaktive Wolken und Fallout auch Gebiete in Russland selbst und in Belarus in Mitleidenschaft ziehen könnten, nachdem die Ukraine in der Westwindzone liegt. Deutlich wird dies an interaktiven Trajektorien-Prognosen, welche etwa im Rahmen der Sorge um radioaktive Lecks in den ukrainischen Atomkraftwerken in meteorologische Modelle integriert wurden. Sollte die eigene Bevölkerung und Infrastruktur unter den Folgen russischer Atomangriffe auf die Ukraine leiden, wäre dies zweifellos höchst problematisch für die Legitimation der russischen Führung und kontraproduktiv für ihre Kriegführung.  

Viertens bestehen auch Zweifel, dass ein taktischer Atomschlag in der gegenwärtigen Situation mit der etablierten und von russischer Seite immer wieder betonten Nukleardoktrin vereinbar wäre. Grundsätzlich behält sich Russland einen Einsatz von Atomwaffen offiziell für den Fall vor, dass ein nichtkonventioneller Angriff gegen Russland geführt oder die Souveränität und territoriale Integrität Russlands existenziell gefährdet ist. Dies schließt eine Gefährdung des strategischen Nuklearwaffenpotenzials und deren Kontrolle durch die politische Führung ein. Zudem gibt es unter westlichen Analytikern die – von der russischen Seite bestrittene – Interpretation der Nukleardoktrin von 2020, dass taktische wie strategische Nuklearwaffen auch im Sinne einer letzten Warnung eingesetzt werden könnten, um einen zuungunsten Russlands verlaufenden Krieg doch noch zu einem akzeptablen Ende zu bringen, im Sinne von „esacalate to deescalate“. Die gegenwärtig bisweilen vertretene Logik wäre dann, dass die russische Führung einen Atomschlag führen würde, um die Ukraine und den Westen zu einer Einstellung der Kämpfe bzw. ihrer Unterstützung zu zwingen, nachdem die Gefahr besteht, dass der Krieg für die russische Seite verloren geht. (Dies widerspricht übrigens direkt dem anderen pazifistischen Argument, dass sich die Ukraine ergeben sollte, nachdem sie ohnehin keine Chance gegen Russland hat.)

Abgesehen davon, dass es bislang noch nicht der Fall ist, dass die Ukraine die russischen Streitkräfte in dem Sinne besiegen könnte, dass daraus weitreichendere Optionen als ihre Vertreibung aus den seit Beginn der Invasion im Februar eroberten Gebieten (und evtl. des übrigen Donbas) resultieren würden, betont die russische Doktrin wie gesagt klar, dass ein Nuklearwaffeneinsatz nur gegen einen nuklearen (oder anderen ABC-) Angriff oder bei der Bedrohung der staatlichen Existenz Russlands vorgesehen ist. Beides liegt im Kontext des Ukraine-Krieges aber eindeutig nicht vor, solange es keinen massiven (Boden-) Angriff auf russisches Territorium (inklusive der Krim mit ihrer aus russischer Sicht existentiell wichtigen strategischen Lage für die Schwarzmeerflotte) gibt oder von westlicher Seite aktiv versucht wird, das Regime Putin (der seine Herrschaft möglicherweise mit der Existenz Russlands gleichsetzt) zu stürzen. Eine nukleare Eskalation von Seiten Russlands ist damit laut der gültigen Doktrin so oder so eine Maßnahme, die sich Russland als ultima ratio in einem extremen Defensivfall vorbehält. Davon ist die Situation im Ukraine-Krieg aber trotz aller russischer Misserfolge (in der Offensive!) meilenweit entfernt.     

Fünftens schließlich - und dies wird bei uns kaum wahrgenommen - würde sich Russland auch die Sympathie und Unterstützung derjenigen Staaten verscherzen, auf die es nicht zuletzt zur Abmilderung der westlichen Sanktionen angewiesen ist, vor allem China und Indien. Beide Staaten haben eine Nukleardoktrin, welche den Ersteinsatz von Atomwaffen ausschließt; im indischen Fall ist dies aufgrund der traditionellen Ausrichtung und der kulturellen Wurzeln der Außenpolitik sogar noch glaubwürdiger als im chinesischen. China hat im Jahr 2013 einen Freundschaftsvertrag mit der Ukraine abgeschlossen. Im gemeinsamen Kommuniqué zum Vertragsabschluss wird darauf verwiesen, dass die Volksrepublik unter keinen Umständen Nuklearwaffen gegen die Ukraine einsetzen werde und sich für den Fall eines nuklearen Angriffs von Seiten Dritter zu – nicht näher bezeichneten – Sicherheitsgarantien für die Ukraine verpflichte. Damit hat China zumindest unmissverständlich klar gemacht, dass es einen Atomwaffeneinsatz gegen die Ukraine für nicht tolerierbar hält 

Das bedeutet natürlich nicht, dass China der Ukraine im Fall des Falles militärisch zur Hilfe kommen würde, aber angesichts eines offensichtlichen russischen Verstoßes gegen das nukleare Tabu könnte die chinesische Führung wohl gar nicht anders, als die ohnehin ambivalente Unterstützung Russlands massiv herunterzufahren, um die eigene internationale Glaubwürdigkeit, insbesondere in den nichtwestlichen Staaten, nicht zu verlieren. Ein solcher Schritt ist zweifellos nicht im fundamentalen Interesse Russlands, welches zukünftig mehr denn je von der vor allem wirtschaftlichen Kooperation mit der Volksrepublik abhängig sein wird. Indien ist ein analoger Fall, auch wenn seine ökonomische Bedeutung für Russland geringer ist .

Was folgt daraus? Zum einen, dass die Sorge vor dem globalen thermonuklearen Krieg gegenwärtig weitestgehend unbegründet ist und getrost im Gruselkabinett eines vom Kalten Krieg geprägten Radikalpazifismus belassen werden sollte – die Überbewertung der russischen nuklearen Drohungen erfüllt vielmehr das (neben der rhetorischen Machtdemonstration nach innen) zentrale Anliegen Putins, in der westlichen Öffentlichkeit Unsicherheit und Panik zu verbreiten und so den Willen zu Unterstützung seines Feindes zu untergraben (was offensichtlich auch teilweise gelingt). Und zweitens, dass bei aller berechtigter Sorge um das eigene Wohlergehen und begründeter Furcht vor einem moralisch aufgeladenen Kreuzzugsaktionismus gegen die russische Aggression gerade in der komplexen gegenwärtigen Lage eine differenzierte Befassung mit den nuklearstrategischen und außenpolitischen Gegebenheiten notwendig ist. Ansonsten kippt der gutgemeinte Friedensaktivismus allzu leicht in eine irrationale und kontraproduktive Bereitschaft zum Appeasement nach dem Sankt-Florians-Prinzip.

   

Literatur/Links:

Horovitz, Liviu/Wachs, Lydia (2022): Russlands nukleare Drohgebärden im Krieg gegen die Ukraine. Folgen für die internationale Ordnung, die Nato und Deutschland. SWP-Aktuell, Nr. 28, April 2022, https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2022A28_NukleareDrohgebaerden.pdf .

Topychkanov, Petr (2020): Russia’s nuclear doctrine moves the focus from non-Western threats. SIPRI Commentary/WritePeace Blog, 1. Oktober 2020, https://www.sipri.org/commentary/blog/2020/russias-nuclear-doctrine-moves-focus-non-western-threats .  

Woolf, Amy F. (2022): Russia’s Nuclear Weapons: Doctrine, Forces, and Modernization. Washington D.C.: Congressional Research Service, 21 April 2022, https://sgp.fas.org/crs/nuke/R45861.pdf .