Kaliningrad – die nächste Konfrontation mit Russland?

Die Entscheidung der litauischen Regierung, auch diejenigen Güter, die im Transit von Russland in die russische Exklave Kaliningrad über litauisches Gebiet transportiert werden, gemäß der EU-Sanktionsliste für Importe Russlands aus der EU zu behandeln und so den Transfer etwa von Kohle, Zement, Metallen und Bauholz zu unterbinden, hat zu einer Zunahme der Spannungen mit Russland und russischen Drohungen vor „gravierenden Konsequenzen“ geführt.

Tatsächlich ist die Transitfrage für Russland besonders wichtig, weniger wegen der durchaus diskussionswürdigen rechtlichen Frage, ob Transitgüter von Russland nach Russland über EU-Territorium tatsächlich russische Importe aus der EU sind, als wegen der eminenten stategischen Bedeutung Kaliningrads als Stationierungsort der Baltischen Flotte und hochgerüsteter Stützpunkt in der Nordflanke der NATO, dessen zentrale Rolle durch einen NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands, gleichbedeutend mit einer potenziellen Abschnürung des Finnischen Meerbusens und damit des anderen Ostseezugangs bei St. Petersburg, noch gesteigert wird. Eine Behinderung der Versorgung Kaliningrads durch die Notwendigkeit, die betreffenden Güter nun aufwändiger per Schiff zu liefern, ist aus russischer Perspektive eine zusätzliche Bedrohung in der wahrgenommenen Auseinandersetzung mit der NATO, welcher unterstellt wird, Russland zunehmend abschnüren und verdrängen zu wollen.

Diese strategische Bedeutung Kaliningrads und der – wenngleich faktisch deutlich begrenzten – „Wirtschaftsblockade“ führt zu Befürchtungen einer militärischen Eskalation der Situation, zumal Parallelen zur Lage der Krim nach ihrer Annexion durch Russland 2014 bestehen, welche im Übrigen ebenfalls nicht zuletzt aufgrund der Sorge um die Lage der russischen Flotte (dort der Schwarzmeerflotte in Sewastopol) erfolgte. Tatsächlich ist die Lage der Exklave Kaliningrad mit ihren militärstrategischen Implikationen und der Gefahr, dass Russland versuchen könnte, eine Landbrücke über die baltischen Staaten herzustellen, etwa durch die Überwindung der „Suwalki-Lücke“, als neuer „Fulda Gap“ zwischen Kalinigrad und Belarus, seit längerem eine Sorge von NATO-Planern und sicherheitspolitischen Beobachtern. 2016 etwa führte die RAND Corporation eine Reihe von Simulationen durch, welche zu dem Schluss kamen, dass die NATO in ihrer augenblicklichen Aufstellung militärisch keine Chance hätte, einen Überraschungsangriff Russlands und die Besetzung des Baltikums zu verhindern und sich im Zweifel zu einem großen Krieg zur Rückeroberung der geographisch ungünstig gelegenen Gebiet einschließlich einer verlustreichen Besetzung Kaliningrads und der Drohung einer nuklearen Eskalation gezwungen sehen würde – ein Szenario, bei dem der politische Wille zum Krieg um das Baltikum insbesondere von Seiten der europäischen Bündnispartner fraglich wäre. In der gegenwärtigen Situation mag sich der Kreml überdies Hoffnungen auf eine Wirkung seiner Drohungen machen, weil die NATO-Kräfte der Enhanced Forward Presence in Litauen, eine Battle Group mit Kontingenten aus Belgien, Tschechien, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen und Deutschland, gegenwärtig von einer Lead Nation geführt werden, deren Öffentlichkeit und politische Führung als besonders unvorbereitet auf eine echte Konfrontation erscheinen, nämlich Deutschland.

Mindestens vier Punkte sprechen jedoch gegen eine tatsächliche Eskalation: Erstens hat sich die litauische Regierung bereits als ausgesprochen renitent gegenüber dem Druck vermeintlich übermächtiger Gegner erwiesen. So hat das Land bekanntermaßen die Handelssanktionen der Volksrepublik China als Folge der Eröffnung einer Wirtschaftsvertretung Taiwans in Vilnius keineswegs klein beigegeben, sondern die Kooperation mit Taiwan sogar noch vertieft. Gerade vor dem Hintergrund der sowjetischen Erfahrung ist nicht anzunehmen, dass dies im Fall Russlands anders sein wird. 

Zweitens haben alle baltischen Staaten in den letzten Jahren Anstrengungen unternommen, ihre Gesellschaften auf eine Art Gesamtverteidigung einzurichten. Eine russische Invasion müsste also massiven Widerstand vor allem auch asymmetrischer Art gewärtigen, der eine nachhaltige Besetzung des Baltikums schwierig und kostspielig machen würde. Nicht zuletzt die Erfahrungen des Krieges in der Ukraine zeigen, dass die Annahme eines befürchteten „Blitzkriegs“ in dieser Region wenig realitätsnah wäre.

Drittens haben neben der NATO im Baltikum insbesondere die USA und Polen bereits die militärische Präsenz an der Grenze zu Kaliningrad verstärkt. Obwohl es zwischen Litauen und Polen traditionell Auseinandersetzungen um Minderheitenrechte gibt, würde ein Angriff auf die Suwalki-Lücke mit großer Wahrscheinlichkeit auch Polen in Mitleidenschaft ziehen, und die polnischen Streitkräfte sind als stärkste in Osteuropa ein durchaus ernstzunehmender Gegner.

Viertens, und das mag im Zweifel der wichtigste Beweggrund für eine faktische Zurückhaltung Russlands sein, sind die russischen Streitkräfte gegenwärtig zum größten Teil in der Ukraine gebunden und wären gar nicht in der Lage eine neue Front gegen einen insgesamt weit überlegenen Gegner mit irgendeiner Aussicht auf Erfolg zu eröffnen. 

In der gegenwärtigen Lage deutet also alles darauf hin, dass die Drohgebärden und das Säbelrasseln von Seiten Russlands nur Teil der psychologischen Kriegführung gegen die westliche Öffentlichkeit und letztlich ein Bluff sind – was den Einsatz anderer, nichtmilitärischer Instrumente hybrider Kriegführung wie Energiesanktionen oder Cyberattacken natürlich nicht ausschließt.

   

Literatur/Links

Elak, Leszek/Sliwa, Zdzislaw (2016): The Suwalki Gap – NATO’s Fragile Hot Spot. Zeszyty Naukowe Akademii Sztuki Wojennej/War Studies University Scientific Quarterly 2/2016: 24-40, https://www.researchgate.net/publication/347520884_THE_SUWALKI_GAP_-NATO%27S_FRAGILE_HOT_SPOT.

Shlapak, David A./Johnson, Michael (2016): Reinforcing Deterrence on Nato’s Eastern Flank. Wargaming the Defense of the Baltics. Santa Monica: RAND Corporation, https://www.rand.org/pubs/research_reports/RR1253.html.

Veebel, Viljar/Sliwa, Zdzislaw (2019): The Suwakli Gap, Kalinigrad and Russia’s Baltic Ambitions. Scandinavian Journal of Military Studies 2 (1): 111-121.