Nuklearwaffen für Südkorea

Die südkoreanische Außen- und Sicherheitspolitik fokussiertt naheliegenderweise traditionell auf das Verhältnis zu Nordkorea, notabene die von ihm ausgehende potenzielle militärische Bedrohung. Die jüngsten technologischen Neuerungen, die Pjöngjang – zumindest propagandistisch – vorgestellt hat, haben die sicherheits- und verteidigungspolitische Diskussion in der ROK neu angefacht, zumal der Dialog zwischen den beiden Ländern wieder einmal wenig produktiv erscheint. Zentral ist die neue Fähigkeit der Nordkoreaner, mit nuklear bestückten Interkontinentalraketen nun auch die Vereinigten Staaten selbst erreichen zu können. Dies hat in Seoul zu Bedenken bezüglich der US-Sicherheitsgarantien im Ernstfall eines Krieges auf der koreanischen Halbinsel geführt, ganz im Sinne der abschreckungstheoretischen Zweifel an einer „extended deterrence“, bei denen es um die Bereitschaft einer nuklearen Schutzmacht geht, die eigene Bevölkerung aufs Spiel zu setzen, um ein fremdes Land zu schützen bzw. nuklear zu verteidigen.

Vollauf der nuklearen Abschreckungstheorie entsprechend ist die Idee aufgekommen, die ROK mit eigenen Atomwaffen auszustatten, um Nordkorea abzuschrecken, getreu dem Motto, dass man sich in der Frage von Nuklearwaffen im Zweifel ausschließlich auf sich selbst verlassen kann. Und das, obwohl die ROK 1975 dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten ist (auch wenn dies – ganz analog zu Deutschland - auch für den Atomwaffenverbotsvertrag gilt, weil dieser auch formell im Gegensatz zur US-Nukleargarantie stünde). 

Nun liegt es im strategischen Interesse der USA, nukleare Proliferation und damit potenzielle Destabilisierungs- und Eskalationsgefahren zu verhindern – wenn Südkorea Atomwaffen anschafft, wer könnte der Nächste sein, Japan? -, daher haben sich die USA und die ROK jüngst darauf geeinigt, dass nuklear bestückte US-amerikanische U-Boote regelmäßig in Südkorea stationiert werden sollen und die südkoreanische Führung in die nukleare Militärplanung der Vereinigten Staaten miteinbezogen wird. Dies entspricht im Wesentlichen dem, was aus dem europäischen NATO-Kontext mit der Stationierung US-amerikanischer taktischer Atomwaffen und der Nuklearen Planungsgruppe bekannt ist.

Im Gegenzug verzichtet Südkorea auf die Beschaffung eigener Nuklearwaffen, auch wenn nicht ganz klar scheint, ob es in Zukunft auch so etwas geben könnte wie eine nukleare Teilhabe, bei der im Ernstfall südkoreanische Truppen US-amerikanische Nuklearwaffen einsetzen könnten (auch wiederum nach dem NATO-Vorbild). Dafür müssten die Vereinigten Staaten zunächst taktische Atomwaffen in Südkorea stationieren, was bislang nicht geschehen ist. 

Es gibt aber noch zwei zusätzliche Gründe für das Entgegenkommen der USA: Zum einen ist man in Washington bemüht, Südkorea stärker als bisher in die indopazifische Gegenmachtbildung zur Einhegung der aufstrebenden Volksrepublik China einzubinden, etwa im Kontext einer erweiterten Quad (mit Japan, Indien und Australien) oder einer vertieften Kooperation mit Japan und Taiwan. Südkorea war diesbezüglich bislang eher zögerlich, da es eine Verschlechterung des Hauptsponsors Nordkoreas fürchtet; allerdings deuten die neuesten Entwicklungen an, dass sich diese Haltung langsam ändern könnte. Nicht umsonst gab es beim Bekanntwerden des Nuklearabkommens mit den USA sofort Warnungen aus Bejing davor, die nukleare „Büchse der Pandora“ zu öffnen. 

Zum anderen drängen die Vereinigten Staaten Südkorea dazu, angesichts des gravierenden Munitionsmangels der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen die russische Invasion als Lieferant von Rüstungsgütern einzuspringen. Schließlich hat Südkorea im westlichen Lager die wohl leistungsfähigste Rüstungsindustrie, während die europäische und die US-amerikanische Industrie offenbar nicht in der Lage sind, den ukrainischen Bedarf der Ukraine zu decken. Der südkoreanische Präsident Yoon hat vor einigen Tagen angekündigt, dass Südkorea diesem Anliegen durchaus entsprechen könnte – was prompt Drohungen aus Moskau nach sich zog, man würde dann Nordkorea militärisch unterstützen. 

Es deutet sich also an, dass die ROK allmählich auch stärker als bisher in die Konfliktkonstellation zwischen den USA und ihren Verbündeten auf der einen und China und Russland (als eher ambivalente Partner) auf der anderen Seite hineingezogen werden wird.