„Day of Disruption“: Kampf um den Rechtsstaat in Israel

Gestern erfolgte in Jerusalem die erste Lesung eines Gesetzes über „Angemessenheitsstandards“ in der Rechtsprechung im israelische Parlament, mit dem das Grundgesetz des Landes ergänzt werden soll. Dieser Parlamentsbeschluss hat dazu geführt, dass für heute ein „Tag des Protestes“ („Day of Disruption“) ausgerufen worden ist, an dem in ganz Israel massive Demonstrationen und Streiks stattfinden sollen, die noch deutlich über die regelmäßigen Demonstrationen Hunderttausender in den letzten Monaten hinausgehen sollen. 

Worum geht es? Wesentlicher Inhalt des Gesetzes ist die Abschaffung des Grundsatzes der „reasonableness“, nach dem israelische Gerichte insbesondere seit den 1980er Jahren die Aktivitäten der Exekutive kritisch begleitet und kontrolliert haben.  Diese gerichtliche Überprüfung erstreckt sich auf die Gesetzgebung sowie Regierungs- und Ministerialentscheidungen und beurteilt sie bei Bedarf hinsichtlich ihrer Angemessenheit („reasonableness“). Diese Rechtsfigur aus dem angelsächsischen Common Law, das auch für die israelische Rechtsprechung relevant ist, besagt, dass Gerichte prüfen dürfen, inwieweit Rechtsnormen oder -praxis im Hinblick auf die verfolgten Zwecke und den Schutz von verfassungsmäßigen Grundrechten zu rechtfertigen sind oder aufgrund ihrer inadäquaten Zielerreichung oder damit verbundener Rechtsverletzungen kassiert werden müssen.  Im deutschen Rechtskontext entspricht dies weitgehend dem (v.a. verfassungsrechtlichen) Prinzip der Verhältnismäßigkeit.

Ursprünglich war das Gesetz Teil eines ganzen Pakets, mit dem die rechtskonservativ-religiöse Regierung Premierminister Netanyahus die israelische Justiz grundlegend überholen und ihren Einfluss auf – in den Augen der Regierungskoalition ihre „ungerechtfertigte Einmischung“ in – die Politik massiv reduzieren wollte, u.a. dadurch, das die Regierung über die Dominanz im entsprechenden Knesset-Ausschuss über alle Ernennungen von Richterinnen und Richtern in Israel bestimmen sollte. Die Rolle der Gerichte, insbesondere diejenige des Verfassungsgerichts bei der Überprüfung der Exekutive und Legislative sollte beschnitten werden.  

Dieses Vorhaben hat zu Massenprotesten der israelischen Opposition und liberalen Zivilgesellschaft geführt, an denen schließlich auch Reservisten der israelischen Streitkräfte (Israel Defence Forces/IDF), insbesondere der Luftwaffe, teilnahmen. Im März warnten Verteidigungsminister Yoav Gallant und Generalstabschef Herzi Halevi sogar öffentlich vor einer Beeinträchtigung der Verteidigungsfähigkeit und nationalen Sicherheit Israels, wenn der Konflikt um die Justizreform weiter zu umfangreichen Streiks von Reservisten führen sollte. Daraufhin entließ Netanyahu den Verteidigungsminister, sah sich angesichts des massiven Gegenwindes gezwungen, Gallant wieder einzusetzen und das Gesetzesvorhaben auf Eis zu legen, um mit der Opposition darüber zu verhandeln. 

Im Juni legte der Premierminister dann eine revidierte Fassung der Justizreform vor, nachdem Gespräche mit der Opposition u.a. an der Frage der Richterernennung und der Kompetenzen des Verfassungsgerichts gescheitert waren. Nun soll zunächst die richterliche Kontrolle der Exekutive mittels des Prinzips der „reasonableness“ unterbunden werden, welche Netanyahu im Übrigen nach einem Urteil des Verfassungsgerichts zu Jahresbeginn gezwungen hatte, einen mehrfach wegen Steuerhinterziehung und Korruption vorbestraften Minister aus seinem Kabinett zu entlassen. Interessant ist dabei, dass ja auch gegen den Premier verschiedenen Verfahren wegen Korruption anhängig sind; seine Justizreform dürfte damit nicht völlig uneigennützig und ausschließlich vom Bestreben, die demokratische Balance zwischen den Gerichten und den gewählten Volksvertretern wiederherzustellen – im Übrigen ein typisches Argument eines eher primitiven rechtspopulistischen Demokratieverständnisses à la Viktor Orbán u.ä., welches die demokratiesichernde Funktion von Rechtsstaatlichkeit übersieht oder gar negiert.

Der Konflikt um den Justizumbau wirft ein Schlaglicht auf die innenpolitische Zerrissenheit in Israel zwischen Liberalen und Konservativen sowie Säkularen und Religiösen, welche quasi symptomatisch für die israelische Gesellschaft ist, in den letzten Jahren aber stetig zugenommen hat, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des ungelösten Konflikts mit den Palästinensern und der inneren Widersprüchlichkeiten des Selbstverständnisses des Landes als jüdischer und (eher säkularer) demokratischer Rechtsstaat, was sich seit langem etwa im Streit um die Ausnahme Ultraorthodoxer vom Wehrdienst (für Männer und Frauen) niederschlägt. In der gegenwärtigen Situation neu ist jedoch, dass auch die Angehörigen der Streitkräfte, die ja in der Masse aus Reservisten, d.h. durchaus selbstbewussten Bürgersoldaten, bestehen, so intensiv in die politischen Auseinandersetzungen verwickelt werden. Bislang waren die IDF der zentrale Integrations- und Identifikationsfaktor der breiten Mehrheit der Israelis, nun ist zumindest ein Teil von ihnen Teil des parteipolitischen und weltanschaulichen Grundkonflikts der Gesellschaft geworden.  

Obwohl die israelische Militärführung die abgespeckte Version der Justizreform nun anscheinend unterstützt, ist noch unklar, wie sich die israelischen Reservisten, vor allem wiederum der Luftwaffe, diesmal verhalten. Premierminister Netanyahu versucht jedenfalls, nach allen Regeln der Kunst Druck auf die Justizbehörden, die Polizei und das Militär auszuüben und die durchaus heterogene Allianz der Regierungsgegner zu spalten, etwa dadurch, dass er versucht, die Luftwaffenpiloten als privilegierte Elite darzustellen, während die Bedeutung und Verdienste des Bodenpersonals nur unzureichend gewürdigt würden. Ob Netanyahu es gelingen wird, angesichts der sich verschärfenden Lage im Westjordanland, an der Grenze zum Libanon und gegenüber der Hamas im Gaza-Streifen sowie in Syrien, den innenpolitischen Konflikt zu seinen Gunsten durch einen bewährten „rally-round-the-flag“-Effekt der Israelis gegen die äußeren Gefahren abzuschwächen und am Ende zu triumphieren, erscheint zumindest fraglich, wenngleich nicht ausgeschlossen. Fest steht, dass sich die einzige Demokratie im Nahen Osten in einer gravierenden Krise ihrer Rechtsstaatlichkeit und politischen Kultur befindet – angesichts der skrupellosen Gewieftheit des Premiers und der ideologischen Radikalität seiner Koalitionspartner mit offenem Ende. 

  

Literatur/Links

Downes, Gary (2008): Reasonableness, Proportionality and Merits Review. New South Wales Young Lawyers Seminar, Issues of Administrative Law, 24 September 2008, https://www.aat.gov.au/AAT/media/AAT/Files/Speeches%20and%20Papers/ReasonablenessSeptember2008.pdf .

Jestaedt, Matthias/Lepsius, Oliver (Hg.) (2015): Verhältnismäßigkeit. Zur Tragfähigkeit eines verfassungsrechtlichen Schlüsselkonzepts. Tübingen: Mohr Siebeck, https://www.mohrsiebeck.com/uploads/tx_sgpublisher/produkte/leseproben/9783161542305.pdf .

Sourgens, Frederic G. (2014): Reason and Reasonableness: The Necessary Diversity of the Common Law. Marine Law Review 67 (1): 73-130, https://digitalcommons.mainelaw.maine.edu/mlr/vol67/iss1/5 .